Taumelnd trifft mein Körper auf den
Stamm, der Tag neigt sich dem Ende hin, die Sonne steht bereits tief und die Wolkenfront
hat sich immer mehr genähert. Der Wind hat zugenommen und die Kälte schlägt mir
wie eine Wand direkt ins Gesicht, schneidet in meine Haut. Kurz sehe ich mich
orientierungslos um, weiß nicht genau wo ich bin und realisiere, dass ich sehr
abwesend gewesen sein muss. Vor wenigen Augenblicken war doch noch Mittag und
plötzlich ist es Nachmittag. Es muss so um die fünf Uhr sein, um diese
Jahreszeit verschwindet die Sonne sehr früh. Wo sind die letzten drei bis vier
Stunden hin verschwunden?
Fröstelnd ziehe ich den Mantel noch
etwas enger um mich und tue die letzten Schritte aus dem dichten Wald hinaus.
Vor mir erstreckt sich eine lange Ebene, überzogen von ergrautem Gras, direkt
vor mir, hinter der Wolkenwand nur zu erahnen, ein riesiger Berg. Er wirkt
unglaublich nahe, aber muss viele Meilen entfernt sein. Müde blinzle ich, mein
Magen rumort, die Übelkeit hält an, ich brauche etwas zu essen. Weit ab von der
Straße aber irgendjemanden zu finden ist doch eine Wunschvorstellung. Den Pfad
habe ich lange wieder verlassen, er ist irgendwann in die falsche Richtung
abgebogen, zumindest nehme ich das an. Dass es tatsächlich eine falsche
Richtung gibt.
Meine Füße brennen und pochen bei
jedem weiteren Schritt, ich zögere, sehe mich um, zurück zum Wald und denke
kurz darüber nach, ob es so schlau ist mich auf der offenen Ebene der Kälte
auszusetzen. Völlig schutzlos, nur wenige Bäume ragen verstreut auf. Der
nächste Waldabschnitt ist nur verschwommen zu erkennen und trotzdem überwinde
ich mich, gehe weiter. Es ist dumm, es ist ziemlich sicher falsch, aber es
fühlt sich richtig an. Hart reißt der Wind an mir, bläht den Mantel auf, fährt
unter meine Kleidung und innerhalb kürzester Zeit ist auch der Rest Wärme
einfach aus mir verschwunden. Es bleibt die eisige Kälte, den Blick gerade aus,
welcher ab und zu hinauf zu der verhangenen Spitze des Bergs wandert. Weiß
schimmert diese, ist aber ansonsten meist völlig von den Wolken verhangen.
Der Boden ist hart unter meinen
Füßen, es muss hier schon in der Nacht zuvor sehr kalt gewesen sein und er
fängt gerade wieder an zu gefrieren. So unnachgiebig ist der Weg durch das
unebene Gelände sehr schwer. Ich knicke oft ab, trete in Löcher, rutsche und
merke, dass der Wald, das Gelände dahinter und vor allem der Berg einfach nicht
näher kommen. Die Distanz muss riesig sein, rechts und links von mir Ebene,
Landschaft. Keine Zivilisation ist zu erkennen, auch wenn ich mir sicher bin,
dass es in Tälern und Nischen, gebückt zwischen Bäumen, sicherlich Dörfer oder
einzelne Häuser gibt. Ich kann sie nur nicht sehen.
Die Ruhe, welche mich zuvor erfasst
hatte und mich taub und blind für alles gemacht hat, ist beinahe verschwunden.
Seit ich den Berg gesehen habe ist da dieser Drang, am liebsten würde ich
rennen, reiße mich aber zusammen. Er ist viel zu weit entfernt. Ein heißeres
Lachen, ich zucke zusammen, realisiere, dass ich dieses schon länger höre und
kann es doch nicht zuordnen. Und dann wird mir klar dass ich das selbst bin.
Ich lache mich aus und die absurde Idee, dass dieser kalte, tote Fels die
Antwort sein könnte. Welche Antwort, ich weiß ja noch nicht einmal die Frage.
Es wird immer dunkler und dunkler,
bis ich schließlich nichts mehr sehe. Der Mond hält sich hinter den Wolken
versteckt, lässt diese kalt und fahl leuchten. Der erste Schnee peitscht mir
entgegen, meine Lippen zittern wie verrückt, werden immer trockener und das
verzweifelte darüber Lecken macht sie nur noch wunder. Mein Kinn schmerzt, als
hätte ich es mir mehrfach angeschlagen. Da ist eine Lücke. Nicht eine halbe Stunde,
wie zuvor oder dass ich vom Rausch weggetreten war. Einfach ein Blackout, ich
weiß von mehreren Stunden nicht mehr, was ich gemacht habe. Wieder lache ich
höhnisch, stapfe weiter und schüttle den Kopf.
„Du bist armselig“, höre ich mich
selbst, knicke mit dem Fuß ab, verliere das Gleichgewicht und schlage hart auf
den Boden.
Mir presst es die Luft aus der
Lunge, ich atme aus und versuche gleichzeitig einzuatmen. Röchle, verschlucke
mich und huste. Mir wird übel und irgendwie schaffe ich es mich auf den Rücken
zu wälzen. Zitternd schaffe ich es Übelkeit und Schmerzen zu verdrängen,
endlich wieder zu atmen. Mein Brustkorb tut weh, zieht und verkrampft sich,
aber nach einiger Zeit wird es besser. Mittlerweile ist es stockdunkel, meine
Glieder sind eiskalt und ich bin versucht einfach so liegen zu bleiben.
Schlussendlich stemme ich mich
hoch, weiß, dass ich so erfriere. Vielleicht ist das etwas übertrieben, aber
riskieren werde ich es nicht. Ich bin vielleicht verrückt, aber nicht
lebensmüde. Die Welt dreht sich, ich spüre dass mein Kreislauf voll am Spinnen
ist und schaffe es gerade so auf den Beinen zu bleiben. Dann geht es weiter,
wesentlich langsamer als zuvor, auf jeden Schritt achtend und den zunehmenden
Schneefall ignorierend. Meine Füße sind völlig taub, die dünnen Schuhe sind
nicht unbedingt ideal für diese Wanderung, aber ich hatte auch nicht damit
gerechnet, dass ich so etwas tun würde. Wer denkt das schon? Wer nimmt schon
an, wenn er gewöhnlich wie immer aufsteht, dass sie plötzlich das eigene Leben
völlig ändert? Das kalkuliert doch keiner ein, wenn er sich morgens anzieht.
Aber alleine Jims Gesichtsausdruck war das ganze schon wert.
Amüsiert lache ich auf. Meine
Stimme wird vom Wind mitgerissen. Was tue ich hier eigentlich? Ich stolpere
weiter, der plötzliche Enthusiasmus hat etwas geholfen, aber jeder Schritt wird
schwerer und schwerer. Ich taumle, rutsche wieder ab und falle auf meine Knie,
die sofort protestierend schmerzen und ich wegen des plötzlichen, stechenden
Schmerzes aufschreie.
Und mein leerer Magen scheint mich
zu töten. Mein ganzer Körper.
Ein Knattern und Brummen dringt an
mein Ohr, orientierungslos sehe ich mich um, schreibe die Geräuschquelle erst
meiner Übermüdung zu, aber sie wird immer lauter. Und dann biegt um einen
kleinen Hügel ein Auto. Die Scheinwerfer blenden mich, stechen in den Augen und
ich will die Hand heben, sie davor abschirmen. Aber als einziges bekomme ich es
hin die Schulter zu zucken, mehr regt sich da nicht. Der Wagen hält auf mich
zu, der Motor stottert und es dringt irgendein alter Bluessong bis zu mir.
Er nähert sich und nähert sich, die
Scheinwerfer erhellen immer mehr die Umgebung und langsam wird mir bewusst,
dass er wirklich direkt auf mich zuhält. Ja und dann sehe ich nach unten und
realisiere, wieso der Sturz ebenso dermaßen wehgetan hat. Ich bin auf eine
Straße gekracht, muss wohl bei der Erhöhung am Rand abgerutscht sein. Obwohl
sie an vielen Stellen Löcher hat und wirklich schäbig aussieht, ist der Asphalt
nicht weniger hart als neuer und tot nicht weniger weh.
Die Musik wird lauter, die Lichter
fallen wieder einmal kurz aus und ich reiße die Augen auf. Oh verdammt. Der
Lichtkegel ist nicht gerade groß und dadurch, dass die Lichter des Öfteren den
Geist aufgeben, ist das nicht unbedingt minder gefährlich für mich. Ich stütze
mich ab, versuche hochzukommen, schaffe es aber nicht. Das Auto nähert sich
immer noch gemütlich, fährt in ein Schlagloch und quietscht wie verrückt. Ich
nehme etwas Schwung, komme aber nicht wirklich hoch und gehe wieder auf die Knie.
Meine Glieder fühlen sich taub an,
als könnte ich sie nicht richtig bewegen. Als hätte man sie mir abgenommen oder
sie wären ein Fremdkörper, den ich nicht beherrschen kann. Wieder hole ich
Schwung, der Wagen ist nur noch wenige Meter entfernt und dann schaffe ich es,
rolle zur Seite an den Straßenrand und das Auto fährt an mir vorbei. Keuchend
bleibe ich auf dem Rücken liegen, sehe hoch zu Himmel und wie sich alles um
mich herum rot verfärbt. Die Bremsen quietschen laut, ich will deswegen
zusammen zucken, schaffe es aber nicht. Diese Kälte, es ist so entsetzlich
kalt.
Schnee rieselt mir ins Gesicht, auf
den nackten Hals und ich kann meinem Atem zusehen, wie er in Wölkchen den Mund
verlässt. Eine Autotür wird zugeschlagen, schnelle Schritte und dann schiebt
sich ein dunkler Schatten über mich.
Eine Frau, die Haare sind weiß und
zu einem groben Dutt zusammen gefasst. Einige Strähnen haben sich gelöst und
hängen hinab. Fasziniert strecke ich die Finger danach aus, hebe die Hand ein
Stück, nach welcher sie greift. „Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung? Was
tun Sie denn hier?“, redet sie auf mich ein. Ihre Stimme klingt alt, gebraucht,
ist etwas heißer und rau. Sie klingt nach einem langen Leben, vielem Lachen,
herzlich und warm. Dafür ist die Berührung ihrer Hand heiß, wirklich heiß. Ich
zucke zusammen, realisiere, dass sie mich hochzieht und es tatsächlich
hinbekommt, mich zu stützen, sodass ich stehen bleibe.
Sie ist kleiner als ich, das ist
nicht weiter schwer, da die meisten Frauen kleiner sind als ich. Vielleicht bin
ich auch einfach sehr groß für eine Frau. „Junger Mann, können Sie mich hören?
Hallo? Sie sind eiskalt“, spricht sie weiter und wir tun ein paar Schritte,
immer den roten Lichtern entgegen. Ich kann meine Füße kaum bewegen, sie hängen
einfach an mir hinab und meine Zehen kann ich auch nicht bewegen.
Woher sie die Kraft nimmt… aber ich
bin auch recht leicht und nach den zwei Tagen ohne wirklich etwas zu Essen wohl
noch ein Stück leichter. Am Auto angekommen werde ich gegen dieses gelehnt und
sehe ihr zu, wie sie die Tür aufmacht. Ich schätze sie auf Ende 50, ihr Gesicht
hat tiefe Falten, die Klamotten sind altmodisch, aber irgendwie auch wieder
nicht. Eine ausgeblichene Jeans, dicke Winterjacke, Schal und Lederstiefel, so
sind die Leute hier in der Gegend schon vor über 30 Jahren rumgelaufen. Kurz
treffen sich unsere Blicke, ich bin so abwesend, dass ich nicht einmal etwas
erwidern kann, als sie mich scharf ansieht. Sie scheint abzuwägen wie
gefährlich ich bin, was ich nicht bin, würde ich einfach einmal so dreist
behaupten. Aber sie hält mich auch für einen Mann, was die ganze Situation
wahrscheinlich nicht besser macht.
Dann löst sie sich aus ihrer
Starre, gerade als ich denke, dass ich einfach so zur Seite wegrutsche,
umfalle, wie ein Stein. Sie legt sich meinen Arm um die Schulter, stemmt mich
etwas hoch und zieht mich hin zur Fahrertür. Die Wärme im Auto kommt mir
bereits entgegen und brennt auf meiner Haut, so wie jede Berührung von ihr.
Irgendwie schafft sie es mich in den Wagen zu verschaffen, ohne dass ich mir
den Kopf anschlage und hebt meine Füße hinein, da ich diese nicht mehr anheben
kann.
Sie mustert mich noch einmal, beugt
sich dabei leicht vor und schnallt mich tatsächlich an. Ein Klaps auf die kalte
Wange, ich spüre es nicht einmal, merke nur, dass sich mein Kopf etwas bewegt.
„Wach bleiben“, weist sie mich an, wirft die Tür zu und umrundet das Fahrzeug.
Der Motor röhrt und gluckst, als
sie ihn erneut startet, sofort fängt die Heizung an wie wild warme Luft
auszustoßen und sie dreht diese sogar noch etwas höher. Ihre besorgten Blicke
registriere ich, merke, dass mein Körper nach einiger Zeit wieder etwas wärmer
wird, aber dadurch werden auch die Schmerzen nur noch deutlicher. Und meine
Hände und Füße tun grässlich weh. Wir habe kein weiteres Wort miteinander
gewechselt, ich habe ohnehin noch nichts zu ihr gesagt, sondern starre einfach
nur gerade aus durch die Scheibe.
Auch mein Magen macht sich wieder
bemerkbar, knurrt und gluckst vor sich hin. Ich zucke zusammen, als sie sich
plötzlich bewegt, vorbeugt und das Handschuhfach an meinen Füßen aufmacht. Nach
wie vor kann ich diese nicht wirklich bewegen und lasse es zu, dass sie diese
etwas zur Seite schieben. Sie holt eine Thermoskanne heraus und legt mir diese
auf den Schoß. „Da ist noch warmer Tee drin. Wie lange waren Sie denn da
draußen? Haben Sie sich verlaufen?“, fragt sie und ich öffne die Lippen,
versuche etwas heraus zu bekommen. Aber es kommt nichts. Ich lege meine Hände
auf die Thermoskanne, spüre aber nicht wirklich etwas, noch kann ich richtig
zugreifen, um den Deckel abzudrehen. Immer wieder rutsche ich ab, habe einfach
keine Kraft dazu.
Sie bemerkt das, nimmt mir wieder
die Kanne ab, klemmt sie zwischen die Beine und öffnet diese ohne große Mühe
mit einer Hand. „Können sie das halten?“, gibt sie mir den Becher in die Hand,
welchen ich tatsächlich mit einiger Mühe und beiden Händen gerade halte, als
sie diesen bis zur Hälfte befüllt. Das Getränk dampft nicht einmal, aber als
ich den ersten, vorsichtigen Schluck nehme verbrennt es mir die Zunge. Mein
Mund scheint in Flammen zu stehen und ich Schlucke hastig, was nicht die beste
Idee ist. Mein Magen brennt, mir wird unglaublich heiß und zittern hechle ich,
bis es sich beruhigt. Vor dem nächsten Schluck puste ich darüber, nippe
vorsichtiger und es wird besser und besser. Meine Lippen sind so aufgesprungen,
dass sie jede Feuchtigkeit quasi aufsaugen.
„Danke“, krächze ich und bekomme
einen eigentümlichen Seitenblick. „Sie
sind ja eine Frau“, stellt sie fest und ich nicke schwerfällig. Ein Schlagloch
und der wenige Tee, welcher noch in dem Becher war, läuft mir über die Hände
und scheint mir die Haut zu verbrennen. Ich komme nicht einmal wirklich dazu
diese abzutrocknen, da wir ganz plötzlich langsamer werden. Das Auto biegt nach
rechts ab, fährt um eine kleine Baumgruppe herum und dann taucht ein kleines,
aber heimelig wirkendes Häuschen auf. Es brennen keine Lichter, aber etwas
Rauch steigt aus dem Kamin auf.
Wieder schlägt Autotür, kaum dass
die Motorengeräusche verstorben sind. Schritte auf Kies, meine Tür wird
geöffnet und sie hilft mir aus dem Wagen und das Stück bis zur Tür. Das Laufen
funktioniert nicht besser als zuvor, ich kann meine Zehen auch immer noch nicht
bewegen. „Ich lasse Ihnen ein heißes Bad ein, sie sind völlig unterkühlt. Hätte
ich sie nicht gefunden…“, beginnt sie, lässt aber den Rest des Satzes offen,
kaum dass ich auf einem Stuhl in der kleinen, aus warmem Holz bestehenden Küche
abgesetzt worden bin. Ja, dann wäre ich wahrscheinlich tot.
Die große Wanduhr direkt über der
Küchenzeile zeigt ein Uhr in der Früh und dann wird das Ticken von dem Rauschen
des Wassers gedämpft. Und doch bleibt es trotzdem beständig in meinem Ohr, Tick
Tock Tick Tock Tick Tock. Die Küche verschwimmt, die Augenlider werden schwerer
und ich sitze zusammen gesunken in der Küche, registriere, dass mir einfach
nicht warm werden will. Nur kurz etwas die Augen ausruhen, nur kurz.
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