Samstag, 7. November 2015

Never Tag 7



Die Akten, die ich zusätzlich zu bearbeiten habe, erfordern nicht, dass ich jemals wieder das Tageslicht sehe. Es ist noch mehr Arbeit als am Vortag und ich registriere, dass das alles einer Haftstrafe gleich kommt. Das ist also seine Reaktion auf mein Fehlverhalten, ich hätte es auch ahnen können. Zwischen den verstaubten Regalen, die bis zu der 4 Meter hohen Decke reichen, vollgewuchtet mit alten Akten, die sicherlich wie Zunder brennen, wenn man nur ein kleines Feuer hinhält, komme ich mir seltsam verloren vor.
Hier unten verliert man jegliches Gefühl für Zeit, sie spielt einfach keine Rolle mehr, nichts scheint eine Rolle zu spielen. Man ist alleine, mit seinen Gedanken, kann sie nicht aussperren, da die Arbeit so stupide und eintönig ist, dass man sich nicht einmal wirklich konzentrieren muss. Jedes Geräusch hallt von den Wänden wieder, lässt den Raum nur noch größer erscheinen, dessen Ecken sich tief im Dunkeln verstecken. Die flackernden Lichter erhellen alles nur notdürftig, manche Lampen funktionieren einfach gar nicht, weswegen mir Willi eine Taschenlampe gegeben hat. Und dann, neben den Geräuschen die man selbst verursacht und den Geräuschen, die das Gebäude selbst macht, sind da die Geräusche, die man sich einbildet. Wenn man im Dunkeln ist und Schritte hört, wo gar keine sind. Immer wieder zucke ich herum, höre das Knarren von Holz, wenn es sich träge gegen den Wind stemmt. Da sind noch andere Laute, tief im Dunkeln. Heißeres Gelächter, aus weiter Ferne,  das Pfeifen des Windes, Rascheln und Schritte.
Wieder zucke ich herum, spähe zu den langen Schatten, die sich zu bewegen scheinen, kaum dass ich den Blick abwende. Nicht mehr als eine Bewegung im Augenwinkel. Da ist es wieder gewesen, das Klingeln. Ich schüttle entschieden den Kopf, versuche mich zu konzentrieren, nicht ablenken zu lassen und realisiere, dass da tatsächlich ein Klingeln ist. Ein Telefon.
Seufzend sehe ich auf, Richtung Tür, die sich irgendwo hinter den Regalen befindet, lediglich das grüne Leuchten des Schildes darüber, das den Ausgang signalisiert, kann ich erahnen. Undeutliche Stimmen, dieses Mal wirklich. Nach der langen Zeit in der ich nur mit meinen Geräuschen alleine war, wirken sie beinahe unecht und laut. Der Nachmittag ist sicherlich schon fast vorbei und als dann plötzlich die Tür geöffnet wird und Schritte näher kommen, erschrecke ich tatsächlich. Mein Kopf tut weh, mein ganzer Körper ist verkrampft und die Wut über diese Arbeit, über dieses ganze, beschissene Leben, schnürt mir die Kehle zu.
In seinem feschen Anzug, der sicherlich ein Vermögen gekostet hat, will er so gar nicht hierher passen. Er hat sich umgezogen, wahrscheinlich muss er noch zu einem Meeting und wirkt einerseits gehetzt, aber auch pikiert darüber, dass er überhaupt hier runter geht. „Smee, die Akten, die du zusammen suchen musstest“, fordert er mich harsch auf und streckt mir die Hand entgegen. „Eigentlich sollten die seit Stunden auf meinem Schreibtisch liegen und denke ja nicht, ich habe deine morgige Verspätung nicht bemerkt. Dafür bleibst du heute länger“, steht er direkt vor mir und ich registriere, dass ich zittere. Kurz ist da der Schock, denn ich weiß nicht, wie er auf die Idee kommt, ich könnte jetzt schon fertig sein.
Das ist absurd, alleine bei der Menge an Arbeit.
Nach wie vor streckt er mir die Hand hin, wedelt damit vor meinem Gesicht herum, als sei ich völlig beschränkt. „Die Akten, ich brauche sie für das Meeting“, knurrt er ungehalten und behandelt mich wie den letzten Idioten. „Ich habe nicht alles fertig“, ist meine Erwiderung, die mir völlig trocken über die Lippen kommt.
Er zieht die Augenbrauen hoch, wirkt wütend und eben darüber möchte ich einfach nur den Kopf schütteln. „WAS? Was hast du bitte bis jetzt gemacht? Es ist doch wirklich nicht so schwer, einen Termin einzuhalten!“, er rauft sich tatsächlich die Haare und ich hätte beinahe aufgelacht. Termin. Er hat nichts von einem Termin gesagt. „Ich habe schon einiges zusammen getragen und…“, laufe ich zu dem Wagen, auf welchem ich tatsächlich schon vieles geordnet habe und ihm eine Mappe entgegen halte. Er sieht sie an, dann mich, wie Abschaum, als wären wir dreckig.
„Du willst sie nicht?“, ich habe ihn gedutzt und es macht mir nichts aus, er registriert es nicht einmal. Wie ich zittere, meine ausgestreckte Hand bebt und das nicht vor Angst. Nein. Wut. Sie scheint mich von innen zerreißen zu wollen, brennt in meinen Eingeweiden.
„Was soll ich mit der Scheiße, Smee. Dein Spatzenhirn wird das vielleicht nicht verstehen, aber es hängen Millionen…“, wird er lauter, steigert sich langsam hinein und wird dann jäh durch einen Knall unterbrochen. Ich habe die Mappe fallen lassen, direkt vor seine Füße, einfach weil ich keine Lust mehr habe sie zu halten. Er sieht mich entsetzt an.
„Heb das auf“, brüllt er.
„Nein.“
Stille folgt, er sieht mich völlig außer sich an und würde es gehen, dann würde sein Kopf rot werden, anschwellen und sicherlich bald explodieren. „Was hast du gedacht? Dass ich zaubern kann? Wirklich? Länger bleiben“, und dabei fange ich an höhnisch zu lachen. „Du bist noch dümmer als es bereits alle Welt von dir denkt. Ich habe die letzte Nacht damit verbracht dir die Scheiße vom Arsch zu wischen, ach ja und dann habe ich sie dir ins Gesicht geschmiert“, sprudelt es aus meinem Mund und ich weiß selbst nicht, woher das plötzlich kommt. Der Knoten ist einfach geplatzt, all die Schikane, die Trauer und die aufgestauten Gefühle. Ich habe keine Lust mehr.
„Du bist ein armer Idiot, geilst dich selbst daran auf, dass du alles flachlegen kannst, bist aber mit deinem kleinen Würstchen nicht einmal in der Lage länger als 5 Minuten durchzuhalten. Du triefende, widerliche Ausgeburt eines verfaulten Fischs, den man sich nach drei Wochen in den Rachen schiebt. Du sabberndes, stinkendes Stück Scheiße, dass man nicht einmal mit der Kneifzange anfassen will. Verpiss dich einfach, erklär den ganzen Leuten, bei denen du bis zum Ellenbogen im Arsch steckst, dass du es nicht einmal fertig bringst, deine Mitarbeiter unter Kontrolle zu bekommen.“
Er ist sprachlos, ich wäre das wohl auch, hätte nicht ich das alles gesagt. Und irgendwie erinnert mich das an meine Kindheit, als wir uns gegenseitig im Beleidigen übertreffen mussten, tief im Wald, mit den anderen verlorenen…. Ich schüttle den Kopf.
Ohne ein weiteres Wort dränge ich mich an ihm vorbei, trete bewusst auf die Akte und werfe die Tür hinter mir zu. Es ist doch später als ich denke, der Gang draußen ist rapple voll, all die hohen Leute, die zur Tiefgarage gehen und ihre Ferraris vom Geschäft Nachhause fahren. Das laute Knallen der Tür lässt tatsächlich einige zusammen schrecken, die anderen werfen mir empörte Blicke zu und ich laufe schnurstracks zu dem Tresen und Willi, wo sich mein Mantel und die anderen Sachen befinden.
„Eben Smee“, grummelt ein Mann und ich fahre so plötzlich herum, dass er einen Satz macht. „Falls dass immer noch nicht in ihr kleines, verkümmertes Spatzenhirn gegangen ist: Mein Name ist SJ. Ich weiß, für manche ist es sogar zu kompliziert sich mehr als eine Silbe sinnvoll merken zu können, aber selbst Sie sollten das irgendwie hinbekommen. Ach und wegen ihres Genitalausschlages. Statt sich immer zu kratzen könnten Sie sich auch einfach waschen. Waschtag ist zwar nur alle 3 Jahre bei ihnen und ihr verrottender Körper ist es auch nicht weiter wert, aber sich immer am Sack zu kratzen, belästigt andere Leute, auch ihre Gestank“, ich werde nicht laut oder aufbrausend, sondern bin völlig ruhig und selbst das Lächeln danach ist eiskalt. Sämtliche Anwesenden haben es gehört und halten sogar inne, als die Tür ein weiteres Mal zugeworfen wird.
„SMEE. KOMM SOFORT ZURÜCK ODER…“, brüllt er mir entgegen und wird erst leiser, als er sich des Publikums bewusst wird.
„Warum sollte ich? Damit du dein fehlendes Selbstvertrauen und all den Frust an mir auslassen kannst? Um mich von einem Egomanen ohne Freunde, dessen Familie ihn nicht einmal ansatzweise leiden kann, herum schubsen zu lassen? Aye, das würde dir gefallen. Vögel weiter alle Sekretärinnen oder die Tochter vom Boss. Spiel den großen Macker, der keine Schwächen hat aber heult wie ein Baby, wenn es ernst wird. Oh, habe ich da ein Geheimnis verraten? Das tut mir aber Leid. Und du, Fräulein Spitztitten, musst gar nicht so dämlich grinsen. Du bist das letzte Weibsstück, das man freiwillig flachlegt. Denk mal darüber nach, wieso dich die Kerle nur von hinten nehmen“, er kann mir nicht den Kopf abschlagen, ich hab ihn zuvor einfach kastriert und jeder der Anwesenden hält sich dezent zurück, da meine Beleidigungen oder eher die Fakten, die man als Mitarbeiter überdeutlich mitbekommt, gegen wirklich jeden eingesetzt werden können.
„Du hast komplett den Verstand verloren“, brüllt er und ist knallrot angelaufen. Das mit dem Heulen hat ihn getroffen, aber mir ist das egal, er hat mir oft genug ins Bein geschossen. „DU… DU…“, steigert er sich hinein und greift nach dem letzten, erbärmlichen Zipfel, den er bekommen kann. „Ich kündige“, vervollständige ich ihn, werfe mir den Mantel um und drücke mich an ihm vorbei, den Mittelfinger hoch erhoben, um dann die Tür zu den Treppen laut hinter mir zuzuwerfen.
Das wars.
Kaum dass ich draußen stehe, mich die Luft wie eine kalte Wand getroffen hat, da trifft mich auch die Konsequenz meines Handelns. Einen Moment kann ich nicht atmen, während meine ehemaligen Arbeitskollegen an mir vorbei laufen und sich bereits das Maul zerreißen. Spätestens morgen weiß es jeder und es schnürt mir die Kehle zu.
Ich hebe den Kopf, lege ihn in den Nacken und sehe hoch zum verhangenen Himmel. Und dann fange ich einfach an zu lachen. Wahrscheinlich werde ich verrückt, aber das war das Beste, was ich tun konnte. Ja, bestimmt.

                                                                       ~

Den ganzen Weg zurück zu meiner Wohnung fühle ich mich wie in Watte gepackt, schwebe quasi und fühle mich trotzdem unsicher, habe Angst, dieses leere Apartment zu betreten. Statt also dorthin zu gehen, steige ich eine Station früher aus und gehe direkt in das kleine Pub. Mir ist nach Alkohol, ich hatte die letzten Tage, gut, den letzten Abend, nichts. Und irgendwie ist mir nach diesem Tag nach Alkohol. Kaum dass ich mich an dem leeren Tisch niederlasse, dasselbe Bier wie immer vor mir, da vergeht das Gefühl des Triumphes, einfach so. Es verschwindet und nichts bleibt, als… Trostlosigkeit. Ich kann es nicht einmal genau beschreiben, es ist, als würde sich ein Abgrund unter mir auftun und es bleibt nichts, viel, viel Nichts.
Mir wird übel, ich starre das Bier vor mir an, sehe zu, wie die Kohlensäure in kleinen Bläschen nach oben steigt. Die Schaumkrone, welche sich bereits wieder auflöst und die bräunliche Farbe, die mich immer an halbverdauten Mageninhalt erinnert oder Matsch. Ich kann nicht anders als dieses hässliche, dreckige Bier anzustarren, dass so gar nichts mit dem goldenen, glänzenden, beinahe scheinenden Getränk aus den Werbungen gemein hat. Gar nichts.
Mir wird übel, es kribbelt in meinem Körper und ich fühle mich, als könnte ich keine weitere Sekunde stillsitzen. Ich springe quasi auf, lasse den Alkohol unangerührt und krame in meiner Tasche, sehe nicht einmal, wie viel Geld ich hinwerfe, sondern laufe einfach los. Diese stickige Luft, das hält keiner aus. In meinen Ohren rauscht es, die Tür geht vor mir auf, jemand betritt den Pub und ich drücke mich an dem größeren Körper vorbei, höre, wie dieser mir noch hinterher ruft. Ango, es ist Ango, aber ich kann einfach nicht anhalten. Mir schnürt es weiter die Kehle zu, draußen an der Luft wird es auch nicht besser und die ersten Schritte gehe ich noch normal, verfalle in einen schnellen Schritte und renne schließlich.
Der Boden fliegt unter mir dahin, der Asphalt und des Kies und dann höre ich wieder dieses Geräusch, als würde ich über Holzplanken laufen. Ich sehe nach unten, aber da ist nur Asphalt, da ist nur normaler Boden. Doch, Rillen, der Boden wird heller, brauner und … . „Shit, SJ. Was ist denn los mit dir?“, werde ich am Arm gepackt, sehe kurz auf und sehe sofort wieder nach unten. Normaler Asphalt. Ich trete prüfend, einmal, zweimal und entziehe meinen Arm Angos Griff.
Eben dieser sieht mich dezent verwirrt an, mustert ebenfalls den Boden und hat dabei die Augenbrauen so hoch gezogen. „Alles OK?“, hakt er noch einmal nach und ich frage mich unweigerlich, was genau er hier möchte. „Logisch“, werde ich etwas pampig und Angos herablassender Gesichtsausdruck erinnert mich enorm an den seines Bruders. Er kann nichts dafür, aber die Verwandtschaft kann er einfach nicht verleugnen. „Oh, entschuldigt bitte, Hochwohlgeboren“, äfft er meinen Tonfall natürlich völlig überzogen nach.
„Was willst du? Seit wann interessiert es dich, was ich tue? Der einzige Grund, weswegen du meine Gesellschaft willst, ist dass du dich über mich und deinen Bruder amüsieren kannst“, gifte ich ihn an und weiß, dass ich das alles nur noch schlimmer mache. Aber es ist so. Alle Fragen, die Ango jemals an mich gerichtet hat, waren wegen seines Bruders. Alles wofür er sich interessiert, ist der Hass auf diesen. Mehr ist da nicht. Ich bin ihm egal, wirklich scheiß egal und eben deswegen ist sein Verhalten gerade etwas eigenartig.
Er erwidert nichts, bleibt einfach still, hat die Hände in den Hosentaschen und sein Gesicht wirkt seltsam neutral. Beinahe desinteressiert. Die Distanz zwischen uns kann ich beinahe fühlen, fast schon sehen und er bestätigt einfach alles. „Stimmt es, dass du meinen Bruder heute vor allen blamiert hast und gekündigt?“, fragt er und versucht es nicht einmal abzustreiten. Da steht das gleiche Arschloch vor mir, nur in älter, mit längeren Haaren und dem markanteren Gesicht. „Ja“, antworte ich wahrheitsgemäß. Er weiß es ohnehin schon, will einfach nur die Bestätigung.
„Ist es nicht armselig, wenn man vor lauter Hass nicht einmal mehr ein eigenes Leben führt?“, frage ich nach einer Weile des Schweigens. Er wippte hin und her, das tut er immer, zu dem Takt, den nur er hören kann. Und dann ist da dieses Grinsen, zynisch und so oberflächlich amüsiert, dass man einfach nicht weiß, ob er jemals wirklich Lachen kann. Ich glaube, ich habe ihn noch nie ehrlich Lachen sehen.
„Was hat er dir eigentlich getan?“, wage ich es zu fragen. Nie haben wir darüber gesprochen und was Jim mir angetan hat, das weiß er ganz genau. Jim hat mir das Herz gebrochen und danach hat er mir meine Ehre genommen, über Jahre, bis heute. „Ist es nicht armselig, wenn man nie ein eigenes Leben hatte?“, fragt er stattdessen, greift meinen Satz auf und zeigt mir deutlich, dass ich zu weit gegangen bin. Oder er ist wirklich so abgestumpft und desinteressiert, dass es ihm nichts ausmacht. Er wirkt immer noch neutral und hat mir trotz allem die Wahrheit in die Fresse geschlagen.
Ich weiß nicht was ich sagen soll, weiß es einfach nicht, ja und da wird mir bewusst, dass ich mich noch weniger kennen, als ihn. Er scheint aber auch keine Antwort zu erwarten, er ist sich einfach so der Tatsache bewusst, die ich ihm an den Kopf geworfen habe, ich aber kann kaum Denken, nicht einmal wirklich atmen.
„Kommst du noch mit einen Trinken? Ich lade dich auch ein, immerhin hast du mir bei dem Zeug gestern geholfen“, fährt er einfach so fort. Wieso ist er nicht entsetzt? Wieso trifft mich das so sehr? Das was er eben gesagt hat. Wie ist es wenn man kein eigenes Leben führt? Was meint er damit? Und dann ist da diese Erkenntnis, dass ich schon so lange weiß, dass ich kein eigenes Leben habe. Nie hatte. Ich bestehe aus nichts, einer hässlichen Hülle, gefüllt mit Nichts und Alkohol. Wahrscheinlich ist eben dies auch der Grund gewesen, wieso ich immer solch eine unterschwellige Wut auf meinen Vater hatte und wieso ich mich schlussendlich mit ihm zerstritten und ihn zu hassen gelernt habe. Wie bin ich nur so blind gewesen? Ich schüttle den Kopf, über mich selbst und darüber, dass ich so etwas Offensichtliches einfach ignoriert habe. Ango sieht es als Ablehnung, wieder wippt er im Takt und kaut auf seiner Unterlippe herum. Er geht nicht, steht einfach da und scheint das Nein nicht so richtig akzeptieren zu wollen. Als sei da noch irgendetwas zwischen uns. Aber da ist nichts, er hat nicht einmal mehr ein Thema, über das er mich ausquetschen könnte.
Ich mustere ihn, seine lange, abgezehrte Gestalt. Er ist trainiert, aber isst nicht sonderlich viel, achtet auch nicht darauf, was er isst. Mittlerweile müsste er die 30 erreicht haben und obwohl sein Mantel zerrissen und die Schuhe ausgelatscht, sowie von Schlamm verschmiert sind, wirkt er nicht ungepflegt. Worauf genau er wartet weiß ich auch nicht, kann mich damit aber gerade nicht auseinander setzen. Das ist mir zu viel.
„Ich glaub ich geh Nachhause“, sage ich und beobachte, wie er sich gerade eine Zigarette zwischen die Lippen steckt. Ein Blick die Straße lang sagt mir, dass wir gar nicht so weit vom Pub entfernt sind, als ich erst angenommen hatte. Nur ein paar Meter. Beinahe lache ich auf. Er steht hier eigentlich nur noch, weil er eine Rauchen will. Das Klicken des Feuerzeugs und er nimmt die ersten Züge, sagt lediglich: „OK.“ Das war‘s.
Wie bin ich auch auf die Idee gekommen, dass er hier wegen mir bleiben würde?
Ohne ein weiteres Wort, das Tschüss erübrige ich mir einfach, laufe ich an ihm vorbei. Ich zittere, das bemerke ich erst jetzt und jeder Schritt zu meiner Wohnung fühlt sich an wie eine Überwindung, als könnte ich ihn einfach nicht tun. Es fühlt sich so unglaublich falsch an.
Die Haustür aufzusperren ist ein beinahe nicht zu schaffen und dann sehe ich die Treppe vor mir, all diese Stufen und bleibe an die Wand gelehnt stehen. Es kann noch nicht so spät sein, aber das Treppenhaus ist ausgestorben und auch sonst hört man nichts. Alles liegt still da und es ist nichts friedlich daran. Es erdrückt mich, stößt mich ab, wie ein Virus, dass in diesen intakten Körper einfach nicht hinein gehört. Ich drehe mich wieder um, ziehe die Türe auf, mit letzter Kraft, so kommt es mir vor und kaum dass ich die kühle Nachtluft spüre, die ersten Schritte weg von diesem verfluchten Haus und dieser unpersönlichen Wohnung tue, kann ich besser Atmen.
Ein Glimmen, wieder dieses Flimmern, im rechten Augenwinkel und ich drehe den Kopf danach, sehe das Licht tanzen, ehe es in der Dunkelheit verschwindet. Ohne weiter darüber nachzudenken laufe ich ihm einfach nach. Dann werde ich eben verrückt, aber so ein bisschen die Beine zu vertreten tut mir ganz gut. Es geht wieder an Ango vorbei, die Straße entlang. Seinen fragenden Blick erwidere ich nicht, ignoriere ihn einfach nur.
Die erste Straßenkreuzung und wieder das Flimmern, rechts. Zwei Mal rechts, ab da geht es nur noch gerade aus, weiter und weiter. An Häusern und Straßen vorbei. Umgeben von Hupkonzerten und Staus, überfüllten Straßen voller Menschen und leeren Gassen. Immer der Nase nach und aus den ersten hundert Metern werden weitere hundert, ein Kilometer, zwei und die Straßen werden immer leerer, die Hochhäuser durch Vorgärten und Reihenhäuser abgelöst.
Und ganz plötzlich ist da ein Schild, das das Ende der Stadt ankündigt und mich in die Wildnis entlässt. Ich starre es an, kann nicht wegsehen, während ich immer näher komme und kann einfach nicht stehen bleiben. Kaum dass ich die Stadtgrenze verlassen habe fange ich an zu Rennen, mein Atem fliegt und es fühlt sich beinahe an, als würde all der Schmutz und Dreck abfallen. Er ist immer noch da, klebt an meinen Füßen und füllt meine Atemwege, aber es fühlt sich einfach besser an.
Besser.

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