drittens – 20% Nimmer
Es ist wirklich entsetzlich kalt
und dann dieses penetrante Klingeln, welches mich einfach nicht in Ruhe
schlafen lässt. Mal ist es weiter weg und dann kommt es wieder näher, immer
näher, wie eine Mücke, die sich meinem Ohr nähert und man nur kurz aufschreckt,
um panisch mit der Hand danach zu schlagen, sich schlussendlich selbst schlägt
und dann weiter döst. Aber nie richtig schläft.
Man ist weder am Schlafen, noch ist
man wach.
Wieder das Klingeln, es ist direkt
an meinem Ohr, direkt an meiner Hand, ich spüre den Luftzug, schaffe es mit
größter Überwindung die Augen etwas zu öffnen und schlage erneut unkontrolliert
zu. Kann dem Drang einfach nicht wiederstehen und habe kurz die Angst, dass mir
das Tier ins Ohr kriechen möchte. Dass ich tatsächlich etwas erwischen könnte,
mit meinem Handrücken und das auch noch deutlich merke, erschreckt mich. Ein
leiser Aufprall, das Klingeln wird lauter, etwas wüster, klingt fast schon
wütend und ich blinzle verschlafen unter meinem Arm hindurch, der halb auf
meinem Gesicht liegt.
Irgendetwas scheint tatsächlich den
Raum zu erleuchten, golden, wirft Schatten und ich bin mir dank der Kälte
ziemlich sicher, dass es nicht die Sonne ist. Gut, ich hab mit meinem
benebelten Hirn ziemlich lange darüber nachdenken müssen, um genau das
auszuschließen, so lange, wie das Ding gebraucht hat sich vom Boden
aufzurichten. Es muss gegen die Wand geprallt sein, steht aufrecht und ist
winzig klein, mit Flügeln. Details kann ich nicht wirklich sehen, meine Sicht
verschwimmt immer wieder und der Boden scheint sich auch arg zu drehen. Mir ist
so übel, wieder viel zu viel Rum.
Noch während ich damit beschäftigt
bin das Wesen irgendwie anzuvisieren, hat sich dieses scheinbar wieder erholt,
hebt ein Stück ab, was ich fasziniert beobachte und schießt dann wie
wildgeworden auf mich zu. Mein erstickter Schrei geht in einem Husten unter, da
ich den ganzen Staub vom Boden einatme und gleichzeitig von dem Teil im Gesicht
getroffen werde.
„Ich bin blind“, bringe ich heißer
heraus, habe weder erwartet, dass dieses Ding wirklich existiert, noch mich
angreift oder gar unter meinem Arm hindurch passt. Das laute Klingeln schrillt
immer noch in meinem rechten Ohr, hallt nach und ich reibe mir mit den
schmutzigen Händen über die Augen, blinzle und sehe doch nur Lichtpunkte. Bei
allen Höllenfeuern.
Langsam beruhigen sich meine Augen
wieder und das Piepen im Ohr wird immer leiser. Das graue, trübe Licht hat mich
wieder und der Wind pfeift durch die Ritzen des Schiffs, bringt den Schnee und
das Eis mit herein. Ich sehe mich um, soweit das in dieser Position geht und
schiebe diesen Wahnsinn, diese Halluzination meinem noch betrunkenen Geist zu.
Nicht einmal in meine Hängematte habe ich es mehr geschafft, sondern bin
stattdessen hinter ein paar Fässern mit Schießpulver eingeschlafen.
Schmatzend will ich mich zurück auf
die Seite drehen, den ekelhaften Geschmack in meinem Mund und diesen miesen
Traum einfach vergessen, sowie die penetrante Kälte, als plötzlich und wie in
Zeitlupe direkt auf meinem Kinn etwas landet.
Wie erstarrt sehe ich das kleine
Wesen an, es leuchtet blass, eher weiß als golden, so wie es mir immer in den
Geschichten erzählt wurde, aber eindeutig, es muss eine Fee sein. Wieder das
Klingeln, es öffnet den Mund, spricht und aus den Lauten höre ich tatsächlich
Wörter heraus.
Was war in dem Rum?
Sie gestikuliert wild und bei jeder
Bewegung rieselt etwas glitzernder, leuchtender Staub… aus ihr heraus. Ich
starre einfach nur völlig perplex. Ihr Haar ist weiß, der Körper auch, wirkt
wie Eis und sie scheint eine Art Kleid aus feinstem Spinnennetz zu tragen. Ich
blinzle, wage es nicht zu atmen und frage mich, ob dieses kleine Geschöpf,
falls es denn existiert, nicht etwa schrecklich friert. Das Klingeln wird
penetranter, sie läuft etwas rot an, ihre Haut verfärbt sich und aufgebracht
trampeln die kleinen Füße über meinen Mund hinweg. Sie steigt auf meine Nase,
stemmt die Hände in die Hüfte und ein böser, wirklich böser Gesichtsausdruck
entstellt ihr sonst so hübsches Gesicht. Pan, irgendetwas mit einem Pan.
„Ws… ws willsu von mir?“, stammle
ich dann doch, habe den Kopf etwas gehoben, als sie losflattert und anfängt an
meinen kurzen Haaren zu ziehen. Pan
finden. Schon alleine wegen dem Namen hätte ich jeden anderen angepflaumt,
aber da reißt eine Fee mir gerade fast das Ohr ab. Eine echte, wirkliche Fee.
Ich komme irgendwie hoch und dass
ohne auf die zu große, leuchtende Libelle zu kotzen. Ein Erfolg auf ganzer
Länge könnte man das nennen und das obwohl ich am ausnüchtern bin. „Was is mim
Pan“, lalle ich weiter und kann nicht ganz begreifen, dass ich doch tatsächlich
einige wenige Begriffe verstehe. Ich kann Feeisch oder wie das auch heißt,
vielleicht kann ich das auch nur Dank des Alkohols und mein Gehirn sagt mir,
dass ich da etwas verstehe.
Das kleine Fräulein fliegt wild vor
meine Gesicht hin und her und hin und her und hin und Oh verdammt, mir wird
schlecht. Ein Rums, gepoltert von weiter vorne, irgendwo unter Deck hört man
jemanden laut aufstöhnen, Grummeln, Knurren, Gepolter und auf der Treppe
erscheinen ein paar dreckige Stiefel. Ich visiere diese kurz an, schrecke
endgültig hoch, dank des Lärms und sehe mich dann wieder verwirrt nach der Fee
um. Sie ist weg, einfach verschwunden.
Ich muss verrückt werden, das liegt
an dem Alkohol und der Kälte. Feen. Haha. Feen sind ausgestorben. Sie sind eh
nie zu uns Piraten gekommen oder haben sich Blicken lassen, wenn wir auf der Insel
waren, aber die Kälte hat sie alle platt gemacht. Desorientiert sehe ich mich
um, wieder den Piraten an, welcher gerade herunter kommt und realisiere, dass
das der erste Mat ist. „Aufstehen, ihr elenden Ratten. Wir rücken aus“, brüllt
er und bemerkt mich doch tatsächlich, wie ich nur wenige Meter entfernt hinter
den Fässern sitze. „Smee, du kommst mit. Wir gehen jagen, krieg deinen Kopf
klar“, stutzt er mich zurecht und ich zucke zusammen, sehe ihn an, statt weiter
nach dem kleinen Wesen zu suchen.
Kurz bleibt mein Blick an etwas
direkt vor meinen Füßen hängen. Dort sitzt etwas und starrt mich mit großen,
dunklen Augen an, in welchen man nichts Weißes erkennen kann. Ein Gnom, die
Haut grau, wirkt wie Stein, spitze, fledermausartige Ohren und in graue Lumpen
eingepackt. Gnome haben nichts übrig für Kleidung oder so etwas wie Näharbeit.
Allgemein sind sie nicht die hellsten Geschöpfe, aber ihnen scheint das Wetter,
im Gegensatz zu allen anderen Bewohnern von Nimmerland, nichts auszumachen. Sie
frieren nicht, vermehren sich aber wie die Ratten und fressen uns mittlerweile
die Haare vom Kopf.
Der Gnom sieht mich weiter an, gibt
kein Quieken von sich, wie sie es sonst tun, wenn man sie erwischt und er hat
auch nicht aufgehört auf dem Netz herum zu kauen, welches ihm anscheinend ganz
vorzüglich schmeckt. Mit vollen Backen starrt er, blinzelt, ich blinzle zurück
und dann streicht er sich mit dem Finger einmal unter der Nase entlang und auch
übers Kinn, als würde er etwas wegwischen. Er nickt mir zu, ich bin mehr als
irritiert, greife nach meinem Gesicht, streiche darüber und starre meine Finger
an, auf denen sich glitzernder Staub befindet.
Meine Augen weiten sich und dann
zucke ich wieder heftig zusammen: „SMEEEE“, brüllt mich der erste Mat der
Skully Ma’m an und steht bereits direkt vor mir. Hastig wische ich mir über das
Gesicht, rapple mich auf und bemerke, dass sich der Gnom mittlerweile unter dem
Netz versteckt hat, nicht mehr zu erkennen ist.
„Aye… aye“, stottere ich rau und er
macht einen Schritt zurück, wedelt mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Beim
Klabautermann, Smee. Heute muss es beute geben, sonst knüpft dich der Käptn am
Mast auf, um uns alle und vor allem Käpten Smith ne Freude zu machen“, grunzt
er, dreht sich um und ist sich bewusst, dass ich sicher nicht widersprechen
werde. Eigentlich könnte die Skully Ma’m mein Schiff sein, aber ich gehöre
lieber zu den Wölfen. Wir sind der Trupp, der im Notfall losgeschickt wird.
Meist bin ich völlig zugedröhnt, habe Alkohol und noch anderes im Blut, wenn wir
Jagen gehen. Es ist ein Rausch und wir werden losgeschickt, die tollwütigen
Verrückten, welche sich im Dschungel mit am besten auskennen. Besser als den
Indianern aufzulauern oder den Meerjungfrauen hinterher zu stellen. Es bringt
alles ja nichts. Wir sind einfach nur der Trupp, der in unbekannte Gebiete
geschickt wurde. Die, die keiner vermissen würde und die auch waghalsig,
vielleicht auch dumm genug sind, sich mit den Nimmervögeln anzulegen.
„Wohin willn Käptn Smith uns
schicken“, frage ich, als ich mich irgendwie hinter ihm die Leiter hochhangle.
Es ist so grell und vor uns erstreckt sich weiß. Der Himmel ist weiß und der
Boden ist weiß, wobei sich bereits in weiter Ferne eine dunkle Wolkenmasse
auftürmt. Ein Sturm, einer der böse Sorte und bei dem Wetter sollen wir raus.
„Nich Smith“, ist er kurz
angebunden und weiß selbst nicht, wieso er mir wegen meiner Fragerei noch keine
Kugel in den Kopf gejagt hat. Und dann werden die Türen zur Kajüte des Käptens
geöffnet und der Befehlshaber der Skully Ma’m gesellt sich zu seinen wertlosen
Ratten. Die Crew hat sich mittlerweile versammelt, auch auf den anderen
Schiffen kann ich erkennen, wie die Leute zusammen getrommelt werden und werde
von dem charmanten, wohlgestimmten Tonfall des Käptens nicht weiter eingelullt.
„Frag mich immer wieder, von wem er sich ficken lassen musste, um den Posten zu
bekommen“, spuckt Ango neben mir aus und ich zucke wegen seiner plötzlichen
Anwesenheit zusammen. Er verabscheut seinen Bruder, mehr noch als jeder andere,
er hasst ihn.
~
Wieder schrecke ich hoch, mein Herz
hämmert mir in der Brust und ich frage mich verwundert, wo der Rest der Crew
ist. Bin ich auf der Jagd erwischt worden, hat mich irgendetwas am Kopf
getroffen? Es dämmert bereits, das Zimmer wird immer mehr von der trüben
Spätherbstsonne erleuchtet und ich realisiere, dass es wieder ein Traum war.
Einer, der sich so echt angefühlt hat, so real, dass ich beinahe noch das Salz
auf der Haut spüren kann und den Geschmack von Rum, gemischt mit dem Staub, den
ich zuvor eingeatmet habe… . Ich schüttle den Kopf. Die Bilder lösen sich
bereits wieder auf, Erinnerungen, die nie passiert sind und nur schwer zu
fassen.
Wieder schüttle ich mich, will
zurück auf meine Matratze fallen, weiter schlafen und reiße dann die Augen auf.
Wie bin ich nach Hause gekommen? Wie?
Da war Ango, das weiß ich noch. Wie
er neben mir steht, ausspuckt. Nein…. Nein. Das war der Traum. Wir waren an der
Mauer, genau. Und die Polizei weiter weg und dann meinte er, er bringt mich
heim. Ich habe dieses Klingeln gehört, so wie… wie das Klingeln in meinem
Traum. Und dann sind wir los. Aber, ich weiß nichts mehr davon.
Ich starre zur Decke, sehe den
schmutzen Putz, der an manchen Stellen abbröckelt und darunter sieht man die
überstrichenen, dunklen Balken. Vielleicht werde ich verrückt? Vielleicht habe
ich einen psychischen Zusammenbruch und Wahnvorstellungen? Ein Seufzen, die
Sonne erhellt das Zimmer immer mehr und ich werfe einen Blick auf mein Handy,
das neben der Matratze auf dem Boden liegt. Ich weiß nicht einmal mehr, dass ich es dort hingelegt
habe, aber es liegt an derselben Stelle wie immer und ist sogar an den Strom
angeschlossen. Noch eine halbe Stunde und ich muss ohnehin aufstehen.
Seufzend stemme ich mich hoch,
setze mich erst einmal hin, um meinen Kreislauf etwas hochfahren zu lassen und
versuche mich nach wie vor verbissen an meinen Heimweg zu erinnern. Mir kommt
es sogar vor, als hätte ich nach wie vor den Geschmack der Rums im Mund und
schließlich überwinde ich mich mit bloßen Füßen über den kalten Boden zu
laufen. Fröstelnd schlinge ich die Arme um mich, vermisse meine Decke
augenblicklich und laufe ins Bad, um mir endlich die Zähne zu waschen. Ich habe
keinen Tropfen Alkohol in dieser Nacht angerührt, aber das Gefühl, es bleibt.
Und auch der Drang mir bereits um diese Uhrzeit einen Schnaps zu genehmigen.
Nach dem Konsum der letzten Wochen bin ich bestimmt bereits körperlich
abhängig, zumindest ein bisschen. Mein Kopf ist es.
Mit schlotternden Zähnen steige ich
schließlich unter die Dusche, sehe meinen eigenen Atem und hoffe darauf, dass
es bereits warmes Wasser gibt. In der Früh, dann wenn man es am Meisten
braucht, ist eben dieses Mangelware.
Nach einer ausgiebigen, warmen
Dusche, entspannt, gut gelaunt und bereits mein Frühstück geschmiert, mache ich
mich fröhlich summend auf den Weg zu meiner geliebten Arbeit. Die Dusche war
kalt, mein Kühlschrank ist so leer wie mein Magen und der verdammte Bus kommt
nicht. Am liebsten würde ich meinen Kopf gegen die Wand der Bushaltestation
schlagen, immer wieder, lehne mich aber stattdessen seufzend dagegen. Auf den
nächsten Bus zu warten bedeutet zu spät zu kommen, loszulaufen bedeutet zu spät
zu kommen, darauf zu hoffen, dass sich ein Taxi mir erbarmt… und ich strecke
wenig enthusiastisch den Daumen raus.
Tatsächlich, nach nur wenigen
Sekunden löst sich eines der gelben Autos aus dem Verkehr, fährt auf die
Bushaltestelle, zu mir und vor allem an mir vorbei. Eine Ladung des dreckigen
Regenwassers, eiskalt natürlich, schwappt über meine Schuhe und durchnässt diese
völlig. Ich sehe dem Wagen nach, der eine Dame aufgelesen hat, die so wie ich
sonst immer den Bus nimmt. Wahrscheinlich sollte ich heulen, nach all diesen
Tiefschlägen, nach all dem, was mir alleine die letzten Tage passiert ist.
Einfach heulen. Aber stattdessen stehe ich an der Bushaltestelle, höre das
erste Grollen vom Himmel, ein Sturm hat sich bereits die letzte Stunde zusammen
gebraut und die Wolken sind immer dunkler geworden, und ich fange an zu lachen,
noch bevor die ersten Tropfen fallen können.
Ich muss verrückt werden.
Fünf Minuten zu spät und völlig
abgehetzt schaffe ich es dann doch noch an meinen Schreibtisch. Bei jedem
Schritt quietschen meine Schuhe und ich bin klitschnass. Immerhin hat der
Busfahrer sich doch noch erbarmt und realisiert, dass er seine Route eventuell
doch einhalten sollte. Er hatte also nur fünf Minuten Verspätung, die sich dann
in zehn, fünfzehn und zwanzig verlängert haben, da der Verkehr einfach die
Hölle war.
Hechelnd ziehe ich mir den Mantel
aus, hänge ihn an die Heizung zum Trocknen, laufe zurück an meinen
Schreibtisch, in dem äußersten Winkel des Großraumbüros und hoffe einfach, dass
wegen der fünf Minuten… „In mein Büro, Smee“, schallt es mir entgegen und ich
sehe Jim bereits Gesichtsausdruck an, dass er es sehr wohl mitbekommen hat. Er
wirkt streng, grinst dann aber doch süffisant und als ich zwischen den Tisch
hindurch, den langen Weg zu seinem Büro laufe, dabei von allen Kollegen mit
spöttischen, teilweise auch mitleidigen Blicken bedacht werde, da komme ich mir
schon ein bisschen vorgeführt vor. Wie der Walk of Shame. Aber irgendwie in
schlimmer, viel schlimmer.
Ohne die anderen weiter zu beachten
gehe ich also mit erhobenem Haupt meinem Untergang entgegen. Wahrscheinlich werde
ich da drin aufgehängt, verbrannt und gevierteilt, genau in dieser Reihenfolge,
nach gestern Abend ein milder Tod. Ich trete ein, sehe zu Jim und dieser ist
gerade am Telefon, hat mir noch den Rücken zugewandt und redet auf
irgendjemanden ein. Er lässt mal wieder seinen Charme spielen und als dieser
nicht durchdringt, wird er deutlicher.
Mittlerweile hat er sogar meine
Anwesenheit registriert und scheint sich dazu herabzulassen, dass ich lange
genug in der offenen Tür gestanden bin und von allen zur Genüge begafft wurde.
Er wedelt mit der Hand, bedeutet mir die Tür zu schließen und kaum dass ich das
getan habe, nach wie vor unsicher stehe und nicht weiter in den Raum hinein
gehe, hat er auch endlich sein Gespräch beendet.
Vor ihm liegen meine bearbeiteten
Akten und er lässt seine Hand auf diese fallen. Ich beobachte das Ganze, folge
seinen Bewegungen und bleibe völlig regungslos, als er anfängt zu sprechen: „Die
Akten von Gestern gehören sortiert, falls ich das nicht erwähnt hatte. In dem
Schrank in den Archiven und wenn du damit fertig bist, hat Willi noch ein paar
neue Akten für dich. Muss heute alles fertig werden.“
Und damit wendet er sich wieder ab.
Ich starre ihn an, starre und von
kurz so perplex, dass ich mich nicht rühren kann. Deswegen hat er mich in sein
Büro gerufen, allen das Gefühl gegeben, dass ich gerade zusammen geschissen
werde und sich jeder das Maul darüber zerreißt, wie ich da noch mit heiler Haut
heraus gekommen bin.
Es war nur Schikane, mehr nicht.
Einfach nur um mich schon am frühen Morgen vorzuführen und mir zu
demonstrieren, dass er alle Macht über mich hat und ich nicht das kleinste
Bisschen über ihn. Wieso genau er das macht ist mir nicht klar.
„War’s das?“, hake ich etwas salopp
nach, gehe nach vorne zum Tisch und hole die Akten. Seine Reaktion auf meine
Bemerkung ist tatsächlich der Blick mit den gehobenen Augenbrauen. „Ja, ja…“, zögert
er dann doch kurz und ich sehe es, so etwas wie… Unsicherheit. Mit viel
Fantasie zumindest, denn er winkt mich augenblicklich hinaus, mit einer so
herablassenden Geste, dass ich mir noch schäbiger vorkomme als eine verlauste
Töle.
Als ich die Tür hinter mir schließe
und die gespannten Gesichter sehe, wird mir bewusst, wie kalkulierend dieser
Mann ist. Fast wie wenn er all diese Menschen lenkt, sie steuert und an den
richtigen Fäden zieht. Alles springt, wenn er pfeift. Ohne ein weiteres Wort
und die Akten vor mir herschleppend, laufe ich zum Aufzug. Es geht nach unten.
Tiefer und tiefer, bis in den Untergrund und langsam wird mir klar, dass ich
wahrscheinlich heute kein Tageslicht mehr sehen werde.
Gleichzeitig, noch während ich im
Aufzug stehe und versuche nicht alles fallen zu lassen, realisiere ich, dass
ich nicht erleichtert bin. Ich habe nicht den geringsten Anschiss bekomme, ich
wurde weder beleidigt, also nicht direkt und auch sonst ist nichts vorgefallen. Nein. Er hat mich nicht
gefeuert.
Und trotzdem ist da dieses
bedrückende Gefühl, dass ich erst nicht zuordnen kann. Es fühlt sich so trist
an, so niederschmetternd.
Ich bin enttäuscht. Ich bin
ernsthaft enttäuscht, dass ich nicht gefeuert wurde.
Das Pling des Aufzugs reißt mich
aus meinen Gedanken, die Türen öffnen sich und ich werde vom flackernden Licht
der Neonröhren begrüßt.
Was
willst du dort nur?
Beinahe kommt es mir so vor, als würde seine Stimme von den Wänden
wiederhallen.
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