Donnerstag, 5. November 2015

Never Tag 5



Mein Vater scheint sich schon lange von dieser Welt verabschiedet zu haben, zumindest dämmert mir das und irgendwie zieht sich mir der Magen zusammen. Keine Sekunde länger halte ich es mehr in dieser kleinen, stickigen Kammer aus, kann kaum atmen. Schwer keuchend drehe ich mich um, mir ist schwindlig, kalt und heiß. Zittern strecke ich die Hand nach dem Griff aus, stoße mit den Knien gegen den Stuhl und drücke die Tür fest auf.
Ein Quietschen, als würde sie sich darüber beschweren, dass ich sie um diese Zeit noch beschäftige und ich stürze hinaus, schiebe einfach den Stuhl grob vor mir her. Laut klappernd fällt dieser um, schlägt auf den Boden und ich stehe japsend und nach Luft ringend daneben. Mir ist schlecht, so verdammt schlecht. Wie in Zeitlupe suche ich mir meinen Weg zu den Toiletten, vorbei an den leeren Arbeitsplätzen, durch das Halbdunkel des Büros. Es ist niemand mehr da, selbst die Putzfrau hat bereits Feierabend und das Licht kommt lediglich vom Verkehr, den Laternen und blinkenden Reklametafeln.
Außer Atem stoße ich hart die Toilettentür auf, stelle mich vors Waschbecken und drehe den Hahn auf, um mir kaltes Wasser über die Hände laufen zu lassen. Über die Pulsadern, was tatsächlich augenblicklich etwas bringt. Mein Kreislauf beruhigt sich etwas, trotzdem fühle ich mich hundeelend, will am liebsten einfach nur in mein Bett. Seit dem Traum ist es irgendwie komisch, er ist mir schon den ganzen Tag im Nacken gesessen, aber kaum dass ich mich an einen Fetzen erinnern kann, ist er auch schon wieder weg.
Meinen Körper macht der seelische Ballast fertig. Ich bin ja nicht dumm, weiß genau was mit diesem los ist und ignoriere es trotzdem. Meinem Geist keine Chance zum Trauern zu lassen erscheint mir aber als einzige Möglichkeit, zumindest weiß ich sonst keinen anderen Weg. Was soll es bringen in meiner Trauer und Wut um meinen Vater zu versinken, auf Fragen eine Antwort zu suchen, die ich nicht kenne und die sonst auch niemand kennt? Um mich in meinem Bett in meiner unpersönlichen Wohnung zu verkriechen und meinen Job zu verlieren, weil diese sagen, meine Trauerzeit wäre bereits vorbei. Ich hätte eben Pech gehabt, wenn ich mir damals nicht frei genommen hätte.
„Was hält dich hier eigentlich?“, eine undeutliche Männerstimme. Überrascht sehe ich auf und bemerke, dass ich wohl doch nicht ganz so alleine bin wie angenommen. Das leise Rauschen des Wassers ist zu einem Nebengeräusch geworden, da eine mir bekannte Frauenstimme nun ebenfalls zu hören ist. „Was meinst du?“, fragt diese, hat etwas Neckische im Tonfall und schon allein deswegen will ich mich nur noch in Luft auflösen. Flirtereien nach Arbeit am Arbeitsplatz, super. Wahrscheinlich denken die Beiden sie wären alleine.
„Du bist so talentiert und so verdammt hübsch“, setzt wieder der Mann an, sie scheinen näher zu kommen, zumindest höre ich nun deutlich ihre Schritte und kann augenblicklich zuordnen, zu wem denn diese tiefe, raue und umschmeichelnde Stimme gehört. Jim, oh bitte nein. Dieser widerwertige, ekelhafte… . Jetzt will ich erst recht kotzen, einfach aus dem Bad stürmen, sozusagen an den Beiden vorbei und ihm dann voll auf seine italienischen Lederschuhe kübeln. Sorry, Brrr, Würg, Platsch. IIIIIIIEEEH.
So in etwa. Vor allem seinen Abend genauso versauen, wie er meinen bereits versaut hat. Instinktiv sehe ich auf meine Uhr, die nasse Uhr, welche nach wie vor nicht funktioniert und will frustriert aufstöhnen, als auch schon wieder die mir bekannte, weibliche Stimme zu hören ist. Sie kichert, dieses dämliche Weibergekicher, wenn man etwas eigentlich nicht wirklich interessant, intelligent oder lustig findet, aber trotzdem weiter flirtet.
Wahrscheinlich findet sie es sogar charmant, wahrscheinlich findet jeder andere das charmant, bis auf mich, weil Jim es auch fertig bringt zu jedem Menschen nett zu sein, abgesehen von mir und seinem Bruder. Ich glaube, dass ist auch der einzige Fakt, der uns so wirklich verbindet. Ein gemeinsamer Hass auf das größte Arschloch der Nation.
„Du könntest so viel mehr erreichen. Jede große Agentur würde dich nehmen, mit Kusshand“, schleimt er weiter und wirklich, sogar ohne dass ich ihn sehe, kann ich ihm zu dieser Glanzleistung an Schauspielkunst nur applaudieren, die Hand schütteln und meine Ehrerbietung ausdrücken. Oder so etwas. Aber er lügt, trotz allem, er lügt. Dieser Hund, dieser Bastard.
Das leise, unterdrückte Piepen in meinen Ohren wird immer lauter. Der Kreislauf, nach wie vor spinnt alles ein bisschen. Wahrscheinlich habe ich einfach zu wenig getrunken, dann die Wärme und schlechte Luft in der Kammer, der wenige Schlaf, der Restalkohol, will nicht wissen wie viel Flüssigkeit ich alleine durch die Kotzerei verloren habe. Ach ja und der Fakt, dass ich mich gerade eben noch so unglaublich aufgeregt habe. Ich sollte wirklich, wirklich etwas trinken.
Stattdessen stehe ich weiter da, starre in die Dunkelheit, mein dunkles Spiegelbild an, beobachte die Schatten, wie sie tanzen und wandern, wie das Licht der Scheinwerfer über mein Gesicht fährt. Im Dunkeln sehe ich gar nicht so schlimm aus, die Wangenknochen stechen nicht hervor wie sonst, sondern wirken weich, es hat etwas Feminines an sich und ich frage mich, ob ich vielleicht gar keine so hässliche Frau geworden wäre.
Naja, wenn…. Wenn ich nicht wie ein Mann aufgezogen worden wäre.
„Aber nirgends gibt es solch einen schnuckeligen Chef“, erwidert sie. Es muss Cindy sein, sie ist recht neu, deswegen habe ich sie nicht direkt an der Stimme erkannt. Macht eine Art Praktikum zur Sekretärin, bereits ausgelernt und mit reichlich Potential, sie hätte fest angestellt werden können. Hätte. Bis sie auf die Idee gekommen ist, dass sie den Avancen von Jim auf den Leim geht. Alles was von ihm genagelt wird fliegt. Ausnahmslos. Er ist da absolut kalt und manchmal frage ich mich, was wirklich hinter diesem kalten Arschloch steckt.
Das Klingeln wird immer lauter, die Lichter tanzen im Spiegel. Punkte, die umherwandern und nach wie vor läuft mir das Wasser über die Arme, bringt jedoch keine Linderung. Es ist als wäre ich neben mir, bekomme alles durch einen weichen, schweren Puffer mit, Watte, die tief in meine Ohren gesteckt wurde und als einziges bleibt das Klingeln.
Es ändert sich, ist nicht mehr so ein penetrantes Piepen, sondern viel mehr… wie ein Glöckchen… oder etwas Organisches. Die Lichtpunkte bewegen sich, hin und her, wie Motten und fasziniert folge ich der Bewegung. Das Klingeln scheint sich mit ihnen zu entfernen, sie suchen das Zimmer ab, fliegen im Zickzack, zur Scheibe und bei einem, dass mir immer näher kommt, direkt hinter mir ist, scheine ich sogar etwas im Licht erkennen zu können. So etwas wie… .
Ein lauter Knall neben mir und ich tue einen Satz, kreische gleichzeitig lautstark auf. „Zur Hölle, Smee, stehst du immer im Dunkeln in Toiletten rum und belauscht andere Leute?“, werde ich angefahren, wobei das höhnische Lachen meiner Wut nur noch mehr Zunder gibt. Mein Herz scheint aus meiner Brust hüpfen zu wollen, während ich Jim ins Gesicht sehe. Dicht neben ihm steht Cindy, ihre schlecht gefärbten, blonden Haare hat sie aufwendig zu Locken gedreht, welche ihr wohl geschmeidig über die Schultern fallen sollen. Tun sie aber nicht. Auch ihr ansonsten äußerst sauber aufgetragener Lippenstift ist verschmiert und den Rest der Farbe finde ich auf Jims Gesicht.
Ich sollte ihn wieder Charming nennen, es ist eine nettere Distanz und der kurze Stich in meiner Brust macht das alles nicht besser. Dass das nach so viel Zeit nicht besser wird, ich bin einfach etwas empfindlich gerade. „Und du machst immer noch die Praktikantinnen an, welche du rauswirfst, kaum dass du sie flachgelegt hast?“
Stille.
Er reißt die Augen auf und selbst der Mund öffnet sich, die spöttische Erwiderung noch auf den Lippen. Er hat mit Gestammel meinerseits gerechnet. Das kann ich nicht gesagt haben. Nein. Das war irgendjemand anderes, irgendjemand. Mir klappt ebenfalls der Mund auf und das Herz sollte mir eigentlich in die Hose rutschen, hat sich aber anscheinend von seinem plötzlichen Aussetzer höhenflugartig erholt.
Cindy scheinen die falschen Wimpern beinahe von den Lidern zu fallen und ihr ohnehin dümmliches Gesicht wirkt noch eine Spur doofer. Empört sieht sie mich an, sprachlos, bis zu ihr durchsickert, was ich gesagt habe. Oh Gott, was habe ich da eben gesagt?
„WAS?“, keift sie los, etwas zu hysterisch. Da scheint wohl jemand bereits die Gerüchte gehört zu haben. Marian, die Obersekretärin und schlimmstes Tratschweib von allen, hat sicherlich wieder einmal kräftig Rauchzeichen in alle Richtungen gegeben. „Ich wusste es. Von wegen ich sei etwas Besonderes“, wird sie lauter und dreht sich mit wehender Lockenpracht um. Ein Schwall von Blumenschampoo und zu viel Parfüm, irgendetwas das mich an Zuckerwatte erinnert, trifft mich und dann sind ihr klackernden Schritte zu hören. Sie entfernt sich, laut fluchend und wenig Ladylike, knickt auf einmal um oder stolpert zumindest, was mit einem noch lauteren Fluchen kommentiert wird.
Es bleibt Stille und ich bin mir immer mehr bewusst, dass Jim immer noch direkt vor mir steht und mich am liebsten aufspießen würde. Die Hoffnung, dass er ihr doch noch hinterher hechtet und das versucht zu retten, was es noch zu retten gibt, also ne kurze Nummer. Vielleicht auch länger, Versöhnungssex soll ja am besten sein.
Nein, er rührt sich nicht, starrt mich einfach nur an und sein Gesicht ist dabei so hart und grimmig. Unauffällig versuche ich den Klos runter zu schlucken, will mich nicht räuspern, kann aber nur schwer dagegen ankommen und gebe schließlich doch auf. „Du hast das eben nicht gesagt“, zischt er leise, so leise, dass es mir schwer fällt ihn zu verstehen. Er wirkt so bedrohlich, dass es mir dabei kalt den Rücken hinab läuft.
Ich schüttle den Kopf, nur minimal, aber dezent verängstigt. Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und mir wird bewusst, dass ich seine Aussage verneint habe, obwohl ich zustimmen wollte. So plötzlich die Distanz zwischen uns zu überwinden ist für mich dann aber doch eine etwas zu drastische Maßnahme und vor allem dass er einfach so mein Kinn mit seiner Hand packt.
„Wenn du das jemals, jemals wieder tust, dann kannst du in der Gosse verrecken“, wispert er und er zwingt mich dazu ihn anzusehen, um dann, mit ein wenig mehr Gewalteinwirkung, mein Kinn von oben nach unten zu bewegen. „Schön, dass wir uns verstehen“, flüstert er und mir fällt auf, dass er nach Rauch riecht. Eigentlich dachte ich, dass er aufgehört hat, auch die kleinen Schnitte an seinem Hals zeigen, dass er nach wie vor zu sehr zittert, als dass er sich beim Rasieren nicht schneidet.
Ihm fällt mein Blick auf, auch wenn ich sofort wieder zur Seite sehe, ihm unauffällig in die Augen und sein Gesichtsausdruck noch eine Spur kälter, vor allem aber abwehrend wird. Abrupt lässt er mich los, dreht sich um und entfernt sich mit schnellen, harten Schritten.
Wütend über mich selbst reibe ich mir das Kinn, bin mir sicher, dass das ein paar nette, blaue Flecke gibt und atme ein paar Mal tief ein und aus. Mein Herz will sich gar nicht mehr beruhigen, hüpft nur so umher und, obwohl ich wahrscheinlich Angst haben sollte, zutiefst eingeschüchtert zurück in das Kämmerchen kriechen könnte, um darin bis 4 Uhr Nachts alles abzuarbeiten, bemerke ich, dass ich noch lebe. Haha, er hat mir weder etwas gebrochen noch bin ich vom Blitz getroffen worden und tot umgekippt. Nichts dergleichen ist passiert.
Gar nichts. Nein, er ist wie ein beleidigtes Kleinkind abgehauen, hat mich bedroht und ist zurück gewichen. Zumindest will mir das mein Kopf so klar machen, während ich in dem Bad stehe und dümmlich, vielleicht auch etwas triumphierend vor mich hin grinse. Das werde ich sicher nicht wiederholen.
Leise gluckse ich auf, kann einfach nicht an mir halten und weiß gar genau, dass ich ihm den Abend komplett versaut habe. Nichts zu vögeln, von der Tussi dumm angebrüllt, von mir blamiert und dann diese kleine Schwäche.
Grinsend stelle ich endlich das Wasser ab, trockne mir die Hände und sehe noch einmal in den Spiegel. Die Lichtpunkte sind verschwunden, auch das Klingeln. Auf dem Weg zurück in die Kammer hole ich mir noch eine Wasserflasche, sehe auf die große Uhr an der Wand und über der Kaffeemaschine, welche mir mitteilt, dass es bereits kurz nach 12 ist. In der nächsten Stunde sollte ich mit allem fertig werden.

                                                                       ~

Kalt schlägt mir die Luft ins Gesicht als ich endlich das Gebäude durch die kleine Nebentür verlasse. Die Drehtüren sind um diese Uhrzeit bereits abgeschlossen und der Wachmann nickt mir zum Abschied zu, während ich die Hände tief in den Taschen meines zu großen und dunklen Mantels verstaue. Es ist wirklich eisig, mir läuft die Nase bereits nach wenigen Sekunden und die Augen tränen wegen dem harten Wind.
Mein Kinn tut nach wie vor weh, aber das hindert mich nicht darin etwas euphorisch vor mich hinzupfeifen. Irgendein Weihnachtslied, was ich aber erst nach einiger Zeit registriere. Es ist ein Dienstagabend und die Straßen sind wie verlassen. Das Gebäude liegt recht zentral, aber am äußersten und vor allem vorzeigbarsten Zipfel des Industriegebiets. Die Bushaltestelle ist direkt gegenüber des Eingangs, nur über die Straße, aber um die Zeit kommt ohnehin kein Bus mehr.
Am liebsten würde ich mich noch etwas tiefer in meinem Mantel verkriechen, meine Ohren sind bereits eiskalt und ich bereue es bei jedem Schritt, dass ich weder Schal noch Mütze mitgenommen habe. Hatte aber auch nicht damit gerechnet, dass ich nach Hause laufen würde. Meine Schritte Knirschen auf dem Asphalt, es ist seltsam still und ein einziger LKW rauscht an mir vorbei, natürlich laut hupend, warum auch immer. Diese Logik habe ich eh nie verstanden. So wie die Menschen, die als fünfte in der Reihe an der roten Ampel stehen und anfangen zu hupen. Dadurch wird die Ampel auch nicht schneller rot.
Gelangweilt, aber auch um mich von der penetranten Kälte abzulenken, kicke ich einen Stein vor mir her und sehe immer wieder kurz auf, einem Zeitungsautomaten oder Laternen ausweichend. Je mehr ich mich dem Stadtzentrum nähere, desto lauter sollte es eigentlich werden. Wie gesagt, es ist Dienstag, zwei Uhr in der Früh mittlerweile, ganz eins hab ich nicht geschafft und die Straßen sind wie leer gefegt. Würde ich wie eine Frau aussehen müsste ich mir wohl ernsthafte Sorgen wegen einer Vergewaltigung machen, aber bei mir ist das Risiko größer, dass ein paar proletarische Teenager auf die Idee kommen, mich zusammen schlagen zu müssen. Männer.
Ein plötzliches Geräusch lässt mich aufschrecken, ich laufe weiter, höre aber auf zu pfeifen und versuche herauszufinden, woher das eben kam. Hätte ich aufgepasst, wüsste ich vielleicht auch was… ein erneuter Knall, klappern, wie von einer Dose oder etwas dergleichen und ja, ich werde etwas nervös. Meine Schritte beschleunigen sich, trotzdem versuche ich gelassen zu bleiben, leise zu sein und lausche. Es kommt von den Mülltonnen die ich auf dem größeren Firmengebiet irgendeines alten und leeren Pharmaunternehmens ausmachen kann. Das Tor ist abgeschlossen, das Gebäude wirkt herabgekommen und verwest, aber auch die eingeschlagenen Scheiben und das Gravity zeigen, dass man durchaus dort einbrechen kann.
Vorsichtig spähe ich in die Dunkelheit, versuche bei den Containern etwas auszumachen, nicht allzu deutlich hinzusehen, nicht dass die auf die Idee kommen, mir hinterher zu rennen. Nichts und dann zucke ich so heftig zusammen, als ein weiterer, lauter Knall zu hören ist, daraufhin lautes Fauchen und zwei Katzen springen in die Scheinwerfer, die Haare aufgestellt und anscheinend voll im Kampf. Erleichtert stöhne ich auf: „Elende Viecher“, und beruhige mich wieder.
Und dann löst sich noch eine Gestalt von den Containern, kommt so plötzlich auf mich zu gesprintet, dass ich es nur schaffe ein paar Schritte rückwärts zu stolpern und gegen die Straßenlaterne pralle. Ziemlich elegant klettert die schwarz angezogene Gestalt über das Rolltor, hat anscheinend schon zuvor ein Loch in den Stacheldraht oben geschnitten und lässt sich dann einfach die drei Meter tief fallen. Stocksteif stehe ich da, sehe die Person mit weit aufgerissenen Augen und gehobenen Händen an, signalisierend, dass ich wirklich nur ein dämlicher Passant bin.
„Ey, Smee, shit. Was machst du hier?“, fragt mich die dunkle Mütze mit den zwei Augenlöchern und die Stimme wird durch den Stoff gedämpft. Ich blinzle irritiert, sehe die Person vor mir genauer an und kann die Stimme doch nicht zuordnen, da diese einfach zu sehr gedämpft wird. Von irgendwo hört am Sirenen, ich schrecke zusammen, sehe mich um und auch in Mr. Nuschelstimme kommt wieder Leben. „Shit“, identifiziere ich das Wort nach einigem darüber nachdenken und werde dann am Arm gepackt und mitgeschleift.
„Hey… ey“, die bemitleidenswerte minimale Abwehr, während ich mit um eine Häuserecke geschleift werde, in irgendeine verlassene Gasse und sich mein Entführer, der mich mittlerweile losgelassen hat und mit keiner Waffe bedroht, hektisch umsieht. Ich könnte einfach weglaufen. Genau das tue ich auch und zwar in einem ganz schönen Tempo, wie ich finde, aber doch durch die plötzlich lautere Stimme ins Stocken gerate.
„SJ, die glauben dir nie, dass du nicht involviert warst“, und ich fahre herum, sehe den dunklen Haarschopf, greife das Nächstbeste, was herum liegt und werfe es nach ihm. „Wie zur Hölle konntest du da nen Alarm auslösen?“, schreie ich ihm entgegen und die Sirenen werden lauter. „Die Mülltonnen sind gesichert. Woher soll ich das wissen?“, ruft er und winkt mir dann hektisch zu. Ango, wie könnte es auch anders sein, da er aber die Kapuze abgenommen hat und recht laut spricht, scheint es zumindest hier keine Kameras oder Mikrophone zu geben. Wir sind auch in dem zu alten, abgefuckten Teil. Hier werden die Grundstücke wahrscheinlich für immer leer stehen, da es sich nicht lohn, eines zu erwerben und erst einmal alles abreißen zu müssen.
„Was machst du überhaupt hier um die Zeit?“, fragt er mich, als ich zu ihm aufschließe und wir in einem schnellen Joggingtempo durch die schmalen Gassen laufen. „Ich war nur…“, er bremst plötzlich ab und ich schaffe es ein paar Schritte weiter zu halten. Fragend sehe ich mich nach Ango um, der bereits durch ein Loch in einem weitere Zaun verschwindet. Das Metall hängt an meinem Mantel, obwohl ich so dürr bin ist es nicht leicht durchzukommen und ich frage mich schwer atmend, kaum dass ich auf dem Hinterhof der großen Fabrik angekommen bin, wie er es dort hindurch geschafft hat.
Ein leiser Pfiff, wie der eines Vogels und ich laufe zu ihm auf die andere Seite. Wieso kann er bitte so pfeifen? Ein weiteres Loch, dieses Mal hinter ein paar Büschen, die wohl dazu da gewesen waren, die Motivation der Mitarbeiter durch etwas Natur zu steigern. Zwei Büsche, das war‘s. Irre.
Immerhin ist hier jemand auf die Idee gekommen, mehr als nur eine Reihe des Zaunes aufzuschneiden und hat tatsächlich so etwas wie ein Loch hinein gemacht. Trotzdem bleibe ich mit meinem Mantel hängen, zerre daran hektisch herum, als wieder Sirenen lauter werden und schaffe es erst mit Angos Hilfe diesen zu befreien.
„Komm, komm. Hab keinen Bock wieder erwischt zu werden und ne Nacht in der Zelle zu sitzen“, knurrt er mies gelaunt und am liebsten würde ich ihm vorhalten: „Du hast mich mitgeschleppt. Hättest du die Scheiße nicht getan, würde ich jetzt zufrieden heim laufen.“
Er joggt vor mir eine wirklich schmale Gasse zwischen den leeren Hallenwracks entlang, die am Ende so eng wird, dass wir uns seitlich durchdrücken müssen. Ich drücke ihn, da er fast stecken bleibt. „Ach was, du hättest eine unglaublich langweilige Nacht erlebt. Es wäre höchstens ein Idiot auf die Idee gekommen dich vielleicht zu vergewaltigen und hätte dann im letzten Moment bemerkt, dass du ja en Kerl bist“, macht er sich prompt lustig und hüpft einfach davon, bevor ich nach ihm schlagen kann.
„Du bist doch einfach das gleiche Arschloch wie dein Bruder“, knurre ich angepisst und ihm gefriert das Grinsen. „Dumme Schlampe“, ist seine Erwiderung, wir sehen uns ein paar Augenblicke böse an, sein Blick ist vernichtend und ich bin mir sicher, dass ich damit nicht mithalten kann.
Und dann dreht er sich auch schon um und geht weiter. Kurz ist da so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Ich hätte ihn nicht mit seinem Bruder vergleichen sollen, das weiß ich, aber er hätte mich auch einfach in Ruhe lassen können, statt offen raus zu posaunen, dass er mich kennt. Zumindest bin ich ja auf einigen Kameras erkennbar, falls da welche sind. Bei dem bloßen Gedanken wird mir plötzlich übel und wirklich heiß.
„Oh fuck. Ango, waren da Kameras?“, frage ich, etwas außer Atem und bleibe neben ihm stehen, als er sich beinahe lässig an eine Wand lehnt. Wir haben ein paar Straßen zwischen uns und die Halle gebracht, wo genau wir sind, weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal wieso genau wir hier sind?
„Joa, so en paar“, erwidert er, zieht eine Zigarette aus der Jackentasche und zündet sich eben diese in aller Seelenruhe an. „So en paar?“, keife ich ihn dezent panisch an und klinge tatsächlich wie eine Frau. Er reagiert nicht bis ich ihn heftig gegen den Arm schlage. „Auaaa, ja doch. Da sind ein paar. Reg dich nicht gleich so auf. Die sind direkt an der Halle und erkennen dich eh nicht von dem Abstand. Abgesehen davon bist du fast so gut getarnt wie ich in der Decke“, meckert er und reibt sich die malträtierte Stelle. Als ob ihm das ernsthaft wehgetan hätte.
„Und du Vollidiot kommst nicht auf die geniale Idee, dass ich eventuell… dass dadurch… AAAH, verdammt noch mal. Was hast du da überhaupt getrieben? Wolltest dich zu deines Gleichen begeben oder was?“, fluche ich, nehme ihm die Zigarette aus der Hand und ziehe selbst ein paar Mal dran. Sofort muss ich husten und meine Lunge verkrampft sich quasi. Schreit laut: NEEEEIN.
„Hahaha“, erwidert er und zieht einfach unbeeindruckt noch eine heraus. Und ich stehe damit ner halb fertigen Kippe, die ich gar nicht rauchen werde. Geil.
„Was du da gemacht hast?“, wiederhole ich und sehe mich hektisch um, als ein Knacken zu hören ist. „Bist auch en bisschen Paranoid? Die Cops machen eh nur die Container zu und verpissen sich dann. Da interessiert sich keiner für, was da…“, er hält inne, spricht einfach nicht weiter und sieht dann zur Seite. So nicht mit mir Freundchen.
„Was da drin ist? WAS IST DA DRIN?“, zische ich ihm jedes Wort überdeutlich entgegen.
„Nur son bisschen Zeug“, erklärt er und hat wirklich keine Lust auf diese Diskussion. Am liebsten würde ich ihn Packen und würgen.
„Was fürn Zeug?“, frage ich weiter und will wenigstens wissen, wieso er mitten in der Nacht aus einem Container einer verlassenen Fabrik etwas klaut.
„Chemiezeug“, ist sein nächster Satz und ich bin es wirklich leid ihm alles aus der Nase zu ziehen. Wirklich. Also mache ich das, was ich zuvor hätte schon machen sollen. Ich greife einfach nach dem Rucksack, den er sich so lässig über eine Schulter geworfen hat und zerre daran. Mein Versuch ihm diesen entreißen scheitert halb, da er doch schnell genug reagiert. Ango reißt an dem Teil, ich reiße daran und dabei fluchen wir beide gleichermaßen und krallen unsere Finger in den Stoff. Er ist stärker, was mich aber nicht davon abhält mich einfach an den Rucksack zu hängen und schließlich ein lautes Ratschen zu hören ist.
Dann folgt klirren und ich spüre wie etwas gegen mich prallt. Ich schaffe es tatsächlich den grauen Klumpen zu fangen und schenke diesem erst einmal wesentlich weniger Aufmerksamkeit, als dem Kleinzeug, dass auf den Boden gefallen ist. Eben dieses hebt Ango gerade hastig auf und tut so, als würde ich nicht sehen, dass er da Spritzen hat. „Was zur Hölle willst du mit Spritzen. Die Verpackungen sind ja nicht einmal mehr… Fuck, du fixt aber nicht ernsthaft?“, reagiere ich etwas entsetzt und erwidere seinen überraschten Blick. „Nein, das… selbst wenn, denkst du ich hau mir schmutzige Spritzen rein? Gib das her“, nimmt er mir auch den Klumpen ab und stopft alles zurück in den kaputten Rucksack. Er hält diesen oben zusammen und versucht irgendwie die zerrissenen Enden zusammen zu knoten, was nicht so wirklich funktionieren will und wieder ein paar Spritzen runter kullern.
„Wofür brauchst du die Spritzen?“, hake ich nach. „Du fragst nach den scheiß Spritzen aber nicht wegen dem Stein?“, lacht er auf und schafft es schließlich, dass er die Enden so hält, dass nicht mehr rausfallen kann. „Was ist das fürn Stein?“, frage ich genervt, aber auch etwas verunsichert. „Gefrorener Feenstaub“, ist seine lapidare Antwort und ich blinzle irritiert. Feenstaub.
„Das ist Uran“, klärt er mich dann doch auf.
„URAN?“, und ich bezweifle, dass das irgendwie mit Händeabwischen getan ist. Ich tue es trotzdem, an meiner Hose. „Das strahlt nicht. Zumindest sollte es nicht. Die Spritzen desinfizier ich und vertick sie“, und darauf fällt mir wirklich nichts mehr ein.
„Du verkaufst armen Junkies spritzen?“, ist meine tonlose, entsetzte Frage.
„Nein, ich verkaufe den reichen Kumpels und Geschäftspartnern meines Bruders saubere Spritzen auf einem Silbertablett, damit die sich ihre tägliche Ladung genehmigen können“, er sag das so trocken, dass ich ihm das einfach so glauben muss. Aber das hat er bei dem Feenstaub zuvor auch gemacht.
„Ernsthaft?“, ich klinge doch tatsächlich ungläubig.
„Ernsthaft“, nickt er. „Komm, ich bring dich heim“
Ich schüttle nur leicht den Kopf über das eben erfahrene, sehe ihm nach, wie er bereits losläuft und halte doch noch einmal inne. Ein Klingeln und ich sehe mich fragen um. Wie ein Glöckchen und doch ist da nichts. „Kommst du?“, höre ich wieder Ango, sehe ihn an und schüttle erneut den Kopf, um wieder klarer zu werden. Es ist eindeutig spät. „Ja, ich dachte nur… ach…. Also das Uran macht wirklich nichts aus?“
Er lacht lediglich auf, zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippt diese weg. Das heißt dann wohl nein oder?

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