Sonntag, 8. November 2015

Never Tag 8



Während bei jedem Schritt mein Körper müder wird, in eine Art Delirium verfällt und ich mich an der gerade Straße entlang immer weiter von der Stadt entferne, scheint sich mein Geist freier zu fühlen als all die Monate zuvor. Nichts als Stille, ab und an ein Truck. Mir ist nie aufgefallen, wie unglaublich laut es immer war. Überall um einen herum die Geräusch der Menschen, Musik, Technik, Straßenlärm. Anfangs kann ich die Sterne nicht einmal sehen, aber je weiter ich mich entferne, desto deutlicher kommen sie am Himmel hervor, werden nicht mehr von dem störenden, dauerhaften Licht verscheucht.
Das ganze unendliche Weltall scheint sich über mir aufzutun und vor mir die riesige Welt. Es sollte doch etwas Erschreckendes haben, aber genauso sollte ich frieren, spüre, dass mein Körper unterkühlt ist, meine Hände eiskalt, nur ist es nicht unangenehm.
Und dann kann ich doch nicht anders, drehe mich um und realisiere, wie weit ich mich bereits von diesem verhassten Elend entfernt habe, dass man als mein Leben bezeichnen könnte. Die Stadt, wie sie leuchtet. Wie ein gigantisches Licht, das gen Himmel strahlt, ein ausgestreckter Finger, der versucht das große Nichts über ihm zu erleuchten. Und dann geht es eine hinab und sie verschwindet hinter der Hügelkuppe, hinter den Bäumen des Waldes, die sich vor mir auftun und es bleibt nichts von ihr, bis auf das Licht.

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Ich blinzle, höre das Rascheln um mich herum und löse den Blick von den Sternen, den gigantischen Planeten, die sich dicht über unseren Köpfen erstrecken. Vor mir erstreckt sich nichts als die grüne Hölle, ein Schlund aus Blättern, Feuchtigkeit und wilden Blumen. Das Rascheln ist ein dauerhafter Begleiter und jeder der Wölfe ist sich bewusst, dass alles, wirklich alles einen hier töten kann. Man sollte sogar aufpassen welches Wasser man trinkt.
Wir haben uns weiter südlich vorgewagt als sonst. Anweisung des Käptens, der Süden, er sei nicht genug erschlossen und diese elende Insel scheint kein Ende zu haben. Wir sind weitläufig um die Meerjungfrauenbucht herum, haben uns bis zum Ende der eingefrorenen Nadelwälder durchgeschlagen, ohne dass es irgendwelche Zwischenfälle gab. Der Dschungel ist aber schon immer so eine Sache, denn neben Gnomen und Wolpertingern, hat sich hier alles hingeflüchtet, was irgendwie überleben möchte. Am Rande des Dschungels floriert das Leben noch.
Dieses Stück der Insel ist noch nicht der Kälte ein heim gefallen, wehrt sich noch tapfer. Aber wenn erst einmal die Geysire nur noch kaltes Wasser hervor bringen, dann wird auch hier schnell der Winter ausbrechen. Aber noch ist es erträglich, je weiter man hinein geht wird es sogar warm.
Aber man will nicht weiter in den Dschungel, außer man ist Lebensmüde, denn im Dschungel lauern gefährliche Biester. Panther, die einen um einen Kopf überragen, Affen und Spinnen, giftige Mücken und Otterlinge, die einen aus manchen warmen Quellen anspringen und ihre spitzen Zähne in die Knöchel  rammen. Diese kleinen, glitschigen Wesen sind äußerst nervig und sehen auch partout nicht ein, dass sie es alleine einfach nicht mit einem ausgewachsenen Mann aufnehmen können,  aber sie können die mit ihren Zähnen ein gutes Stück Fleisch aus dem Fuß reißen. Und wenn man Pech hat, vergiften sie einen auch noch und dann ist man nach einigen Tagen ohnehin tot.
Und dann sind da noch die Nimmervögel und das sind wirklich ein paar Zeitgenossen, mit denen man sich nicht unbedingt anlegen möchte. Sie sind auch der Grund, weswegen sich die meisten Wesen am Rand des Dschungels aufhalten und dort der Kälte aussetzen. Diese riesigen Vögel, deren Leiber nur aus Knochen bestehen, mit spitzen, großen Schnäbeln und den Bunten schwingen. Die Indianer haben einen Weg gefunden diese Tier zu töten, sie tragen zumindest vielfach ihre Federn, was darauf schließen lässt. Aber die Indianer sind auch bessere Kämpfer als wir, was ich neidlos eingestehen muss. Sie sind tapfer, sie sind mutig, sie haben Ausdauer und trainieren wie die Wilden. Wortwitz, haha. Und somit stellen Indianer alles dar, was Piraten nicht sind. Mutig, tapfer, trainiert. Dass ich überhaupt so eine Ausdauer habe grenzt an ein Wunder.
Schwerer, rasselnder Atem neben mir reißt mich aus meinen Gedanken und ich mustere den einäugigen Hawks. Er steht vorgebeugt, geht zwischen den hohen Gräsern und Blättern beinahe unter, wäre da nur nicht sein lauter Atem. Wegen dem Kerl bin ich einige mal schier drauf gegangen, aber jedes Mal hat er es irgendwie geschafft zu überleben und das obwohl er auf dem verbliebenen Auge auch fast blind ist.
„Wonach suchen wir eigentlich genau?“, frage ich leise und beobachte den Dschungel vor uns genau. Wir sind schon viel zu weit drin und noch hat man weder Indianer noch einen Nimmervogel gesehen. Er zuckt die Schultern, was auch nicht sehr hilfreich ist und nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann. Ich tue es ihm gleich. Der Schnaps brennt, wärmt von innen und bei diesen für diese Region doch humanen Temperaturen, tut er sogar ganz gut. Mein Kopf schwebt seit langem auf dieser Wolke aus Alkohol, zuletzt nüchtern war ich… keine Ahnung. Es ist lange her.
„Er meinte nur tief rein“, knurrt er leise und wirft mir aus seiner leeren Augenhöhle einen Blick zu. Hawks hält nichts von Augenklappen, sie kratzen und außerdem mag er es, wie jeder den Anblick des eingefallenen Augenlids abschreckend findet. Angeekelt wende ich mich wieder ab und runzle die Stirn. Falls mein verballertes Hirn auch nur einen klaren Gedanken fassen kann, frage ich mich, was wir hier überhaupt tun. Das Ganze hatte so wichtig geklungen. Erst die Wölfe voraus und dann die Erkundungstrupps hinterher, mitten in den Dschungel.
Aber der Auftrag ist nicht das Winterresort der Indianer zu finden, es geht auch nicht darum, dass man herausfindet, wo genau das Territorium der Nimmervögel ist oder was es mit dem Nimmerbiest auf sich hat. Ja und das wäre wirklich ein Suizidkommando. Nicht dass daran glaube, das Biest ist so etwas wie ein Schauermärchen, Seemannsgarn, mehr nicht, aber provozieren muss ich es dann doch nicht. Mir schmeckt das alles nicht und noch weniger, als plötzlich Schreie etwas weiter vorne zu hören sind. Es ist nicht genau vor uns, was ja schon einmal einen Vorteil verheißt, aber die dazu gehörenden Geräusche, wenn ein Körper zerstört und zerrissen wird, zeugen davon, dass das kein bloßen über eine Wurzel Stolpern war.
Angespannt bleiben wir beide sitzen, schließlich überwinde ich mich, als es wieder still wird, in der Hocke vorwärts zu gehen. Ich schiebe mich durch die Blätter, steige über Wurzeln und stoße dann mit dem Fuß gegen etwas, dass ein Stück rollt. Ein Arm, ein abgerissener Arm. Zwischen den Blättern kann man nur wenig erkennen, aber auf einigen befindet sich Blut und sie wippen nach wie vor. Bewegungen, wieder Schreie, dieses Mal näher und jemand stürmt vor mir auf eine kleine Lichtung, er wird am Fuß hochgerissen, hinter ihm einer der großen Vögel. Ein zweiter kommt von rechts, schnappt nach dem Rumpf des Mannes und die Tiere fangen an sich um den Körper zu streiten. Sie zerren, krächzen, trillern und reißen, bis er in der Mitte nachgibt und die schwerere Hälfte auf den Boden klatscht. Die Vögel umkreisen sich nach wie vor, greifen sich gegenseitig an und versuchen das größere Stück zu erobern. Was sollen wir hier? Uns alle umbringen lassen? Sonst haben wir wenigstens eine Aufgabe, die gefährlich ist und niemand freiwillig tun würde, aber eine Aufgabe.
Und dann dämmert es mir. Wir sollen uns umbringen lassen. Weiter hinten im Wald werden auch Schreie laut, vom Erforschungstrupp.
Aber wieso das Ganze? Man braucht doch sonst auch jeden Mann.
Beinahe hätte ich aufgelacht, kann gar nicht fassen, wie nüchtern mein Verstand funktioniert, obwohl ich doch eindeutig betrunken bin. Alle können nicht überleben, nicht bei der Kälte und je weniger es sind, desto länger gibt es Feuerholz und desto länger auch essen. Sie haben uns zum Sterben weggeschickt, auf eine Mission, die man nicht überleben kann.
Vorsichtig tue ich die ersten Schritte zurück, stütze mich mit den Händen am Boden ab und versuche kein Geräusch zu verursachen. Diese dummen Vögel sollen bloß nicht auf mich aufmerksam werden. Ich habe mich ja sogar freiwillig für das Suizidkommando beworben, aber mich von den eigenen Leuten ermorden zu lassen, darauf habe ich keine Lust. Dass letzte Bisschen von mir bäumt sich doch tatsächlich auf und klammert sich am Leben fest. Mein Atem geht keuchend, trotzdem reiße ich mich zusammen und zwinge meine Brust sich nur langsam zu heben und zu senken, damit man nichts hört.
Ein Knacken, ich zucke zusammen, sehe nach unten auf den Boden und stelle fest, dass ich das Geräusch nicht verursacht habe. Und dann ist da das laute klackernde Geräusch, direkt über mir, weswegen sich meine Augen weiten und ich nur schwer einen Aufschrei unterdrücken kann. Ich hocke da, völlig starr, kann mich einfach nicht bewegen und wage es nicht aufzusehen, dem Biest direkt in das Gerippe von Gesicht.
Etwas tropft mir auf den Kopf, feucht und warm, rinnt mir die Kopfhaut entlang, hinten den Nacken hinab und in mein Hemd. Mir wird übel, mit dem vielen Alkohol im Blut dreht sich alles, wenn ich länger still halte und mein Herz scheint mir aus dem Brustkorb springen zu wollen. Es tropft wieder auf mich, dieses Mal mehr und verdammt, das Vieh stinkt, dass es mir alleine deswegen schon beinahe den Magen umdreht. Ich schließe die Augen, verdränge alle Gedanken, nun panisch und Hals über Kopf loszustürmen, zu hoffen, dass der Vogel mich nicht bereits nach zwei Schritten gepackt und in zwei gerissen hat.
Ich zittere wie verrückt, hör meinen eigenen Atem und wie kontrolliert er noch ist. Es läuft mir ins Gesicht, über die Augen und in die Mundwinkel, den Hals entlang und zwischen die mickrigen Brüste. Wieder ein Knirschen, Knacken und dann kommt wieder Bewegung in das Tier. Aus Reflex öffne ich die Augen, sehe den Fuß direkt vor mir, die langen Krallen, welche sich in den Boden rammen und dann fällt vor mir ein Bein auf den Boden. Mir spritzt noch mehr Blut ins Gesicht, das Tier trottet weiter, hat mich nicht einmal bemerkt, ganz auf die Beute in seinem Maul konzentriert, auf welcher es herum kaut. Hawk, seine leere Augenhöhle blickt mir entgegen, sie ist so tot wie er. Und kaum dass sich das Vieh den anderen zwei nähert fangen sie sich um die neue Beute an zu streiten.
So stark habe ich noch nie in meinem Leben gezittert, schaffe es irgendwie mein steifes Bein nach hinten zu schieben, das zweite auch, immer weiter, bis die Vögel hinter den Blättern verschwinden. Erst da schaffe ich es mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen, beinahe schon hysterisch. Das Gekreische vor mir wird immer leiser, die Schreie der Piraten nehmen jedoch nicht ab und gerade als ich mir überlege aufzustehen, bricht rechts von mir jemand durch das Dickicht. Schreiend und Keuchend versucht der blutüberströmte Mann weg zu kommen, stolpert umher und wird dann von einem Tier angefallen. Es reißt ihm mit einer Bewegung die Bauchdecke auf, sodass die Organe umher fliegen. Zusammen gekauert sitze ich da, sehe dem Ereignis zu und kann den Blick einfach nicht abwenden. Der Mann brüllt und wie er brüllt, liegt auf dem Boden, das aufgescheuchte Tier hüpft um ihn herum und beobachtet, wie er verzweifelt versucht seine Organe zurück in seinen Körper zu schieben. Er gehört nicht einmal zu den Wölfen, mit denen ich zwar nie großartig gesprochen habe, aber doch alle vom Gesicht kenne. Sie haben uns hergeschickt um zu sterben.
Mein Magen verkrampft sich, als er heulend und stammelnd immer wieder in das eigene Blut, die Exkremente fasst, welche aus seinem geplatzten Darm heraus fließen und er gar nicht fassen kann, dass das sein Oberkörper ist, der geöffnet wurde wie eine Dose.
 Und dann übergebe ich mich, ganz plötzlich. Mein Mageninhalt, bestehend aus brennendem Alkohol und der Magensäure wird nach oben gedrückt und ich kotze mir die Seele aus dem Leib. Das alles geht unter dem Geschrei der Männer unter, die rings um mich herum ihr Leben verlieren.
Ich sehe nach unten, auf mein versickerndes Erbrochenes und kann sein Gesicht nicht vergessen. Dieses ungläubige, als er die eigenen Eingeweide in Händen hält, die beinahe kindliche Hoffnung und Verzweiflung, als er sich versucht zurück zu stecken und die eigenen Knochen sehen kann. Ich bin nüchtern, nüchterner als seit Monaten und schnappe mir meinen Flachmann, um mich einfach auf die nächste Wolke zu ballern. Das alles will ich nicht sehen, ihre Schreie nicht hören und die Geräusche, diese Geräusche, wenn die Knochen knacken und das Fleisch… . Hastig setze ich an und ziehe das brennende Gesöff hinab, sitze mittlerweile auf dem Boden, an einen Stamm gelehnt.
Irgendwann lasse ich den Flachmann einfach fallen, als er endgültig leer ist, höre das Knacken seiner Knochen immer noch. Immerhin hat er aufgehört zu schreien, ist endlich tot, während das Tier ihn ausnimmt. Beim bloßen Gedanken daran kommt es mir fast wieder hoch. Ich bleibe hier einfach sitzen, bis ich sterbe oder die Vögel verschwinden. Oder ich gefressen werde.
Bei allen sieben Höllen, so will ich nicht sterben, nicht so. Bis vor nicht einmal einer halben Stunde habe ich noch gedacht, dass ich sterben will, mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich erstens: liebe weiter lebe und zweitens: auf keinen Fall so abkratzen will. Nein, nein, nein. Ich möchte niemals die eigenen Eingeweide in Händen halten oder in der Mitte durchgerissen werden. Nie.
So schnell bin ich noch nie auf meinem Bauch gelegen und langsam über den Boden gekrochen, nur wohin. Die Erde scheint aufgeweichter als zuvor und kaum dass ich meine Hände hebe und die rote Farbe sehe, ich rede mir ein, dass es Farbe ist, weiß ich auch warum. Aber wohin? WOHIN? Am liebsten würde ich schreien, unterdrücke es einfach direkt loszuheulen, sondern krieche noch ein Stück weiter, mich unterhalb des Dickichtes haltend. Wurzeln, Äste und Dornen zerreißen mir die Haut, zerkratzen das Gesicht, es ist egal, nur meine Frage wird natürlich auch nicht beantwortet. Stattdessen erstarre ich, als direkt vor meinem Gesicht ein Fuß auftaucht und eines der Tiere dicht an mir vorbei rennt. Hätte ich meine Hand nur etwas früher ausgestreckt. Und Giggeln, tief und beinahe nicht auszumachen, ich starre nach wie vor gerade aus, an die Stelle, wo gerade noch der Fuß war und sehe dann, weiter vorne im Dickicht, einen Gnom. Das Wesen sieht mich aufmerksam an und wieder einmal fällt mir auf, wie gruselig es doch ist, dass sie nie blinzeln.
Seine schwarzen Kulleraugen blicken mir entgegen und dann gibt er wieder dieses Geräusch von sich. Etwas zwischen Kichern und Schnarren, nicht ganz definierbar, noch wie er es erzeugt. Er hat eine große Warze auf der Nase, die aussieht wie ein Steinbrocken, der jeden Moment abfällt. Es ist der gleiche Gnom, das erkenne ich oder ich erkenne es auch nicht und will es mir einfach nur einreden. Das Wesen sieht mich an, dann mit einem Ruck kommt wieder Leben in es, es läuft einmal, zweimal im Kreis und dreht sich dann um, gerade aus zwischen den Blättern verschwindend. Ich starre ihm mit offenem Mund hinterher, zögere und verwerfe dann einfach jede Vernunft und folge kriechend.
Wahrscheinlich ist es ohnehin verschwunden, denke ich noch, als ich die Blätter etwas zur Seite schiebe, mich weiter ziehe und es schließlich auf einer Wurzel stehend, dicht an einem Stamm vorfinde. Es wartet, sieht mich an und dreht sich wieder im Kreis, aufgeregt.
Dann hält es wieder inne, starr wie ein Stein selbst, was nur diese Kreaturen können und lauscht. Und dann geht es ganz plötzlich nach rechts und ich folge, ganz ohne darüber nachzudenken.

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