Dienstag, 3. November 2015

Never Tag 3



Völlig fertig schrecke ich hoch, spüre wie mir der Speichel aus dem Mundwinkel gelaufen ist und gleichzeitig, dass es nicht unbedingt gut ist, wenn ich so verkatert auf dem Bauch liege. Mir ist übel, mein Kopf tut weh und in meinem Mund scheint es nur so zu wachsen und zu gedeihen. Meine Zunge fühlt sich taub an, als wäre sie von einem widerwertigen Flaum überzogen und der Geschmack von dem letzten Bier hängt mir noch im Mund.
Auch von Rauch, wobei ich mich frage woher der kommt, da man in keinem Pub mehr rauchen darf. Und dann, nach einer Ewigkeit in der ich nur vor mich hinstarre, mühe ich mich doch hoch, realisiere, dass ich in meiner Wohnung bin und kann mich nicht ansatzweise daran erinnern, wie ich hier gelandet bin.
Langsam taumle ich Richtung Bad, versuche mich nicht direkt im Flur zu übergeben und kann mich grob daran erinnern, dass ich bereits gekotzt habe. Auf einem Steg und auf Eis… und. Verwirrt halte ich inne, blinzle und ignoriere den Schwindel. Ein paar letzte Fetzen des Traums hängen noch in meinem Hirn, aber auch diese verflüchtigen sich. Es klang alles logisch, alles so verdammt logisch und auch das, was ich über meinen Adoptivvater zusammen gesponnen habe.
„Peter Pan“, lache ich trocken auf, gehe ins Bad und spucke in das Waschbecken, bevor ich mich im Spiegel betrachte. Das Licht der Straßenlaterne direkt vor meinem Fenster reicht aus und demonstriert mir, dass ich erstens nicht aussehe wie ein Pirat und zweitens mich waschen sollte. Wirklich, das wäre angebracht.
Wahrscheinlich hat mich Ango die Straße runter und heim gebracht oder eben ich habe das irgendwie selbst geschafft. Was für ein verrückter Traum. Das liegt nur an diesem ganzen Peter Pan Dreck und weil mein betrunkenes Hirn irgendwie die Puppe verarbeitet hat und die Trauer um meinen Vater damit verknüpft. Aber seltsam, ich weiß noch, dass ich mich daran erinnern konnte, wie er mich damals getroffen hat. Im Traum, da wusste ich das, auch wenn es bestimmt absoluter Müll war, da es mir partout nicht mehr einfallen will, aber ich kann mir schon seit…. Eigentlich seit ich mich erinnern kann, nicht mehr erklären, wie ich damals zu meinem Dad gekommen bin.
Wahrscheinlich wurde ich einfach von so einer Mitarbeiterin übergeben oder sowas, es war aber auch nicht wichtig.
„Oh Goooott“, bringe ich heißer heraus, stütze mich mit den Händen auf dem Waschbecken ab und lehne mich noch etwas weiter vor, um mein Gesicht zu betrachten. Ich bin keine Schönheit, selbst als Junge wäre ich keine Schönheit geworden, aber für eine Frau, bin ich wirklich misslungen. Meine Haare sind dünn und in lang stören sie mich, deswegen schneide ich sie ab. Nein, ich habe sie schon immer kurz, weil… weil… es ebenso ist. Die Augen sind blau, aber dieses ausgewaschene Blau, das auch ein Grau sein könnte. Mein Kinn ist spitz, das Gesicht allgemein etwas dünn, so wie mein Körper auch. Ha und von meinem Brüsten will ich gar nicht erst anfangen, die haben sich fast schon vor der Pubertät gedacht, ne, hab kein Bock zu wachsen, das ist anstrengend.
Ich gehe als junger Mann durch, das tue ich schon immer und mein Vater hat das immer unterstützt. Er hat mich wie einen Sohn groß gezogen, ja. Genau. Und er war es auch, der meine Haare immer abgeschnitten hat. Ich wollte gar keine kurzen Haare, ich wollte… . Wütend sehe ich mein Spiegelbild an. Ich bin so selbst schuld. Er ist tot und nach wie vor unterdrückt er mich, sogar ohne dass ich es merke, bis jetzt.
Müde stoße ich mich vom Waschbecken ab, erneut wird mir schwindlig und mein Magen gibt bedrohliche Laute von sich. Mit letzter Kraft schaffe ich es mich aus meinen Klamotten zu befreien, die Jeans hat ein paar getrocknete, helle Flecken. Ja, ich hab eindeutig gekotzt. Dann schleppe ich mich unter die Dusche, stell das Wasser an und sofort auf kalt.
Ein leiser, erstickter schrei, mein Kreislauf schießt in die Höhe, kurz wird der Schwindel noch schlimmer und schließlich beruhigt sich mein Körper. Vielleicht kann ich danach noch etwas schlafen, auf die ätzenden Piratenträume aber wirklich gut verzichten.
Schwankend komme ich tropf nass hinter dem Vorhand hervor, hebe die schweren Beine über den Wannenrand und stütze mich auf dem Waschbecken direkt daneben ab. Ein weiterer Blick in den Spiegel bestätigt mir, dass ich nach wie vor beschissen aussehe, aber wenigstens sauber bin. Er ist sogar etwas angelaufen, obwohl ich das Wasser kalt gestellt habe. Es muss eisig kalt sein, aber die Heizkörper wollen nicht so recht, obwohl der Vermieter natürlich etwas anderes behauptet.
Müde taumle ich zu der Matratze, welche mittig im Schlafzimmer liegt und lasse mich einfach darauf fallen. Sofort schlinge ich die Decke um mich, vergrabe mich tief darin und versuche die kalten Füße warm zu reiben. Immerhin ist mir nicht mehr schlecht, aber dafür merke ich nach wie vor den Alkohol. Morgen wird hart werden.

                                                                       ~

„Wieder zu spät“, Charming steht tatsächlich an meinem Schreibtisch, hat den Computer bereits angeschalten und scheint irgendetwas zu suchen. Ich ignoriere ihn, so wie er mich meist einfach mit Missachtung straft. Er war wirklich schon immer ein Arschloch, seit ich mich erinnern kann, auch wenn vieles aus der Jugend oder gar Kindheit völlig in Vergessenheit geraten ist. Manchmal verspotten mich Freunde, dass mein Gedächtnis wie ein Sieb ist, ohne Boden. Alles fällt hindurch und nur weniges kann sich halten.
Ich weiß tatsächlich nicht mehr viel von früher. Er sieht auch, unsere Blicke treffen sich und schon anhand seines stocksteifen, herablassenden Getues sollte man nicht annehmen, dass wir in der gleichen Nachbarschaft aufgewachsen sind, sogar zusammen gespielt haben. Man verändert sich ja bekanntlich mit dem Alter, die einen werden weißer und die anderen Arschlöcher. Passiert.
„Deine Aufgaben“, nickt er auf den Berg an Akten neben ihm, bei welchen meine Hauptaufgabe ist, diese in den Computer zu speißen. Eben dafür habe ich den ältesten Scanner bekommen, den sie auftreiben konnten und natürlich den von Viren zerfressenen Computer, an welchem sich jeder bedient. Die meist geklickten Seiten sind Pornoseiten, zeigt mir der Browserverlauf an.
„Sharon wird ab jetzt das mit den Getränken während den Besprechungen machen, ach, und es kommen heute ein paar wichtige Partner vorbei. So um 13 Uhr, eben deswegen bekommst du einen exklusiven, neuen Arbeitsplatz“, lächelt er mich doch tatsächlich kurz an und schon alleine daran realisiere ich, dass mir das nicht gefallen wird.
Schließlich stehe ich in der kleinen, dreckigen Abstellkammer, ohne Fenster und mit flackernder Lampe. Der Tisch hat gerade so hinein gepasst, vor mir steht ein noch älterer Rechner und der gleiche Scanner. Dank der Regalbretter an den Wänden muss ich aufpassen wohin ich trete. Naja, eigentlich kann ich mich nur um einen Schritt nach vorne oder hinten bewegen und mit geschlossener Tür ist es schwierig sich um den Stuhl herum zu quetschen, um darauf Platz zu nehmen.
Wieder flackert das Licht, geht aus und wieder an.
Natürlich hat es sich Jim nicht nehmen lassen mir mein neues Domizil selbst vorzustellen, dies dabei so laut heraus blökend, dass es die ganze Etage mitbekommt. Unterhaltung auf meine Kosten. Ach, Jim ist das Arschloch, also Charming. Er hat sogar einen Namen, das sollte man nicht annehmen. Wieso habe ich dieses Arschloch jemals attraktiv und anziehend gefunden? Stimmt ja, weil er attraktiv ist, nur eben sein Charakter ähnelt einem verkümmerten, ausgetrocknete Wurm, der eben von einem Truck niedergewalzt wird und dessen Gedärme es zu beiden Seiten rausdrückt.
Ein tiefes Ausatmen, ich reiße mich zusammen, finde mich einfach mit der Situation ab und der Tatsache, dass er mir mehr oder weniger verboten hat zwischen 13 und 17 Uhr diesen Raum zu verlassen. Kein Essen, keine Pipipausen, nichts. Ich frage mich ernsthaft, ob das als Freiheitsberaubung durchgehen würde, lasse mich auf den Stuhl fallen, schlage mit dem Hinterkopf gegen die Türklinke und zucke nach vorne, mir dabei die getroffene Stelle reibend. Mein Leben ist ein verschissener Rasen, an welchem jeder Köter halt macht. Und jetzt?
Jetzt reibe ich die pochende Haut, bin mir sicher, dass das eine Beule gibt und greife dann nach der obersten Akte, um diese aufzuklappen. Der Kleber darauf ist mir bis dato nicht weiter aufgefallen, erst als er sich löst und flatternd zu Boden fällt. Fluchend beuge ich mich vor, versuche mit dem Stuhl noch ein Stück zu rutschen, knalle mit den Beinen gegen die Tür und versuche mich zwischen Tisch und Stuhl nach unten zu quetschen, um die elende Notiz in die Finger zu bekommen. Hechelnd hasche ich nach dieser, spüre wie mir die Kante der Tischplatte in die Schulter drückt und schaffe es endlich den Zettel zu bekommen. Schwer atmend und mit rotem Kopf komme ich wieder hoch, schlage mir natürlich wieder den Schädel an und werfe die Akte angepisst zurück auf den Stapel.
Den Wutschrei unterdrücke ich, noch unterdrücke ich ihn, bis ich die Worte sehe.
Die Lippen hart aufeinander gedrückt und die Zähne verzweifelt zusammen gebissen entkommt mir ein lang gezogener, mehr als angepisster Ton. Am liebsten würde ich aufspringen und aus dem Raum stürmen, was aber damit enden würde, dass ich verzweifelt versuche die Tür zu öffnen und dann samt Stuhl aus dieser verschissenen Kammer kippe.
„Bitte alles bis morgen früh auf meinem Schreibtisch, Kisses“
Dieses Arschloch, dieses verfickte Arschloch. Ich starre die Akten an, den Zettel, wieder die Akten und zerreiße dann, einem plötzlichen Impuls folgend, das kleine Stück Papier. Die kleinen Fetzen rieseln zu Boden und ich lasse den Kopf hängen, versuche mich zu beruhigen.
Das ist niemals heute machbar, niemals.
Er weiß das genauso gut wie ich und trotzdem werde ich es machen müssen, auch wenn ich die ganze beschissene Nacht in dieser Kammer sitze. Knurrend greife ich nach der ersten Akte, die Verzweiflung hat gar nicht erst eingesetzt, stattdessen ist da Wut. Die gleiche Wut, die ich heute Nacht verspürt habe, auf mich und meinen Vater. Dann werde ich diese Akten durcharbeiten und ihm morgen früh auf den Tisch knallen, direkt vor seine hässliche, arrogante Visage. Ein fieses, kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen.
Vielleicht knalle ich sie ihm auch direkt ins Gesicht.


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